Skulptur . Weimar . 2007 . Hans Joachim Albrecht.
Rede zur Ausstellungseröffnung
Romantikhotel Dorotheenhof, 1. Juli 2007
Sehr geehrter Herr Professor Albrecht, Frau Albrecht, liebe Frau Gatz-Hengst, sehr geehrte Damen und Herren,
die diesjährige neunte Ausstellung in der Reihe Skulptur . Weimar ist umfangreicher als alle vorherigen. Es gibt gewissermaßen mehr Kunst fürs Geld, denn Hans Joachim Albrecht hat zehn Werke nach Weimar gebracht. Fünf Arbeiten stehen hier im Dorotheenhof, fünf weitere im Stadtraum, von der Schillerstraße bis zum Bahnhof hinaus. Zehn Werke – und damit nicht genug, denn jedes dieser Werke hält, so meine ich, zwei Lesarten bereit: Eine Lesart, die die Skulpturen als Konkrete Kunst diskutiert, das heißt als Variationen zum Thema von Flächen und Linien im Raum, als Experimente zur Wirkung von Farbe und Licht. Die wechselnden Schatten im Tagesverlauf bringen wechselnde Identitäten der einzelnen Figur hervor. Eine weitere Lesart geht anhand der Werktitel der Genese der Plastiken nach (Werktitel wie diejenigen Albrechts kennt die Konkrete Kunst in der Regel ja nicht) und interpretiert die Skulpturen vor dem Hintergrund der Entwicklung der vom Abbildhaft-Figürlichen weg strebenden Plastik des 20. Jahrhunderts.
Und auch dabei sind wieder zwei große Aufgabenstellungen im Werk Hans Joachim Albrechts zu konstatieren: Zum einen das Einfangen einer Bewegung im gestalterischen Rhythmus einer Skulptur – hierauf verweisen Werktitel wie Übergang (vor dem Schillerhaus) oder der Doppelrhythmus eines Schreitenden (in der Bahnhofshalle). Zu den Figuren, die Bewegungsabläufe einfrieren, gehören sogar noch die Kauernden und Hockenden, denen im Werktitel meist ein Adjektiv der Bewegung beigefügt ist: Kauernde, im Rumpf gedreht; Hockende, sich durchdringend oder Hockende, hinausgestreckt (beide hier im Dorotheenhof). Und noch Werktitel wie Hockende – entgegengesetzt und Hockende mit erhobenem Hand-Kopf (beide unten im Stadtraum ausgestellt) verweisen auf die soeben erst beendete Geste.
Das Studium der menschlichen Bewegung und das Strukturieren der Plastik am menschlichen Maß also als eine der großen Aufgaben, der sich die Bildhauerei Hans Joachim Albrechts immer wieder stellt. Zum anderen variiert Albrecht die Darstellung – oder Auflösung – des Kopfes. Wir haben den lauschenden Kopf hier im Park, den großen Doppelkopf KM unten vor dem Wittumspalais. Hier wird nicht die individuelle Bewegung, sondern das überindividuelle Bleibende thematisch – auf welche Art, werden wir noch genauer diskutieren.
Bevor wir uns den verschiedenen Aspekten des Werks zuwenden, lassen Sie mich die Biographie Hans Joachim Albrechts in aller Kürze für Sie zusammenfassen. Albrecht stammt aus Ostpreußen und wächst ab 1949 in Krefeld auf. Nach dem Abitur studiert Albrecht an der Kunsthochschule Kassel in der Bildhauerklasse von Bernhard Bylandt-Rheydt. Er legt das Staatsexamen für das künstlerische Lehramt ab, arbeitet aber sofort als freischaffender Bildhauer und wird 1967 Dozent an der Werkkunstschule Krefeld. Nach Gründung der Fachhochschule Niederrhein in Krefeld wird Albrecht 1973 zum Professor der Lehrgebiete Gestaltungslehre, Plastische Gestaltung und Farbgestaltung des Fachbereichs Design berufen. Wichtige kunsthistorische Publikationen – Farbe als Sprache. Zu Robert Delaunay, Josef Albers und Richard Paul Lohse sowie zur Skulptur im 20. Jahrhundert legt Albrecht Mitte der 70er Jahre vor (etliche weitere Schriften folgen). Er wird u.a. Mitglied im Vorstand der 1959 gegründeten Sikkens Foundation, einer Stiftung, die sich der Förderung der künstlerischen Farbforschung verschrieben hat, Mitglied im Beirat der Derik-Baegert-Gesellschaft, die in einer Schlossanlage nahe Wesel zeitgenössische Kunst fördert, Mitglied des Stiftungsrates der Richrad-Paul-Lohse-Stiftung Zürich u.a. 1979 gastiert Albrecht in der Villa Romana, Florenz, 1984 für neun Monate bei George Rickey in East Chatham, USA. Auszeichnungen und Stipendien werden ihm seitens seiner Heimatstadt und des DAAD verliehen.
Wenden wir uns nun den Kopfskulpturen zu. Sie sind vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung Albrechts – aber auch der Auseinandersetzung der Bildenden Kunst seit Beginn der Moderne – mit dem Phänomen der Maske zu sehen. Gemeint ist nicht die abendländische Tradition der Theatermaske, wie sie uns aus der griechischen Tragödie und der italienischen Commedia dell’arte bekannt ist. Die abendländische Maske steht für einen unwandelbaren, aber individuellen, höchst menschlichen Charakterzug, der auf der Bühne ausgestellt und mit anderen, ebenso statischen Charakteren kontrastiert wird. Diese Masken waren nicht der Gegenstand, an dem die Bildende Kunst sich vor 100 Jahren abzuarbeiten begann. Vielmehr war es die Totenmaske, die Ahnenmaske der afrikanischen und indigenen amerikanischen Kunst, die Künstler wie Picasso, Brancusi, González u.a. in ihren Bann schlug. Im Gegensatz zur abendländischen Theatermaske nämlich verschwindet hinter dem sakralen Objekt der Totenmaske die einzelne Identität. Das Überindividuelle, Göttliche scheint auf und tritt mit dem Menschen in Dialog. Die Maske, in der das Numinose uns begegnet, ist aber zugleich die Waffe gegen die Magie jenseitiger Geister. Im Tragen der Ahnenmaske wird der in den Kult eingeweihte Mensch den Göttern gleich, als überindividuelles Wesen den Geistern ebenbürtig. Picasso belagerte förmlich über Wochen das Völkerkundemuseum in Paris, um sich der starken Wirkung dieser damals noch gänzlich unbekannten Gestalten auszusetzen.
Hans Joachim Albrecht diskutiert in seinem sehr lesenswerten Buch Die Maske des Zeitgenossen dieses Phänomen unter dem Aspekt des Stilbegriffs in der Moderne. Die abendländische Kunstgeschichte ist geprägt vom ständigen Wandel der Stile und künstlerischen Handschriften. Der Zwang zum Neuen ist das einzig Beständige. Kubismus und Konkrete Kunst versuchen im Verlauf des 20. Jahrhunderts, der Beliebigkeit des individuellen künstlerischen Schaffensprozesses durch Geometrisierung zu entkommen. Das rechte Maß, wie es in Zeiten sakralisierter Kunst die Tradition einfach vorgab, muß für die abendländische Kunst erst neu gewonnen werden. Eine Wiederbelebung magischen Wissens scheint unmöglich. Die Rückbindung – re-ligio – ans Göttliche ist zerschlagen und uns zwischen den Fingern zerronnen. Eine Entindividualisierung und Objektivierung des künstlerischen Schaffensprozesses scheint aber mithilfe einer Geometrie möglich, die uns in unserer Architektur umgibt und unsere erste Orientierung in der Welt bestimmt. Die Geometrisierung lässt uns strukturelle Ähnlichkeiten im Unähnlichen erkennen – eine Eigenschaft, die eben auch das magische Wissen auszeichnet.
Albrechts Köpfe stehen in engem Dialog mit Werken der Moderne, das machen seine eigenen kunsthistorischen Erörterungen deutlich. So muß der Doppelkopf KM, der auf dem Theaterplatz steht, zu Werken Brancusis und Uhlmanns in Beziehung gesetzt werden, die sich über Jahrzehnte an Rodins Kuß abarbeiteten. Die Künstler strebten weg von der überbordenden Emotionalisierung und Individualisierung dieses Werkes und schufen Doppelkopf-Szenarien und Küsse aus Blechplatten und Drahtgeflecht. Auffallend an Albrechts Doppelkopf – das KM ist übrigens als „Künstler – Muse“ zu entschlüsseln – ist, daß die Köpfe einander nicht zu-, sondern abgewandt sind. Nicht Blick und Zugewandtheit setzt sie zueinander in Beziehung, sondern eine veritable Verschmelzung. Aus der Seitenansicht betrachtet erscheinen beide Köpfe als eine Gestalt. Die Umkehrung zeigt der Kopf PRONT – lies: Profil und Front. Ein Kopf erscheint in zweierlei Gestalt. Aus der Malerei Picassos kennen wir solche Frauenköpfe.
Im kubistischen Gedankengut wurzeln natürlich auch die Skulpturen Albrechts, die Bewegungen im Bild festhalten. Vor knapp 100 Jahren waren es die Herausforderungen des Films, die Werke wie Duchamps nue descendant un escalier hervorbrachten. Wenden wir uns also den Skulpturen zu, die Bewegungen zum Thema haben. Albrecht bereitet jede skulpturale Arbeit sorgfältig in Zeichnungen vor. Schreitende, sich in Bewegung befindende Körper werden zunächst umrissen, dann eventuell horizontal oder vertikal fragmentiert. Die Skizze bemächtigt sich in dieser Weise auch gegenläufiger Drehungen eines Torso oder zweier sich begegnender Körper, die bei den markanten Punkten von Kinn, Schulter, Hüften und Knien zeichnerisch festgehalten werden. Die Figuren auf dem Papier werden immer weiter reduziert und so nach und nach zur zeichnerischen Vorlage einer Skulptur, die dem Betrachter auf den ersten Blick scheinbar lediglich als strukturierte Stele gegenübersteht. Der Übergang – das Werk aus dem Jahr 2000 steht in der Stadt vor dem Schillermuseum – ist eine solche, in eine Säule eingeschriebene Bewegung. Der Doppelrhythmus eines Schreitenden (in der Bahnhofshalle ausgestellt) markiert schon im Titel die Gegenläufigkeit einer einzigen Bewegung, die innere Verdrehung, die der Mensch erlernen muß, um in der Fortbewegung, diesem ständigen kontrollierten Fallen Balance zu halten, sich im aufrechten Gang als Mensch zu behaupten. Die bewegten Figuren werden zu strukturierten Säulen, doch die Form gründet im Figürlichen. Das Fundieren des Schaffensprozesses in der akribischen Beobachtung der menschlichen Gestalt bewahrt die tektonischen Skulpturen Hans Joachim Albrechts vor Willkürlichkeiten. Sie bewahrt sie vor Fehlern in der Proportion. „Alle Kunst ist Maß“, wie Albrecht gerne zitiert und zitiert wird: Das Abstützen der abstrakten Kunst, der Tektonik, der Architektur im menschlichen Maß garantiert das Angemessene, die richtige Proportion – das weiß die abendländische Kunst spätestens seit Leonardos Beschäftigung mit dem Menschen des Vitruv.
Die Skizzenbücher und wissenschaftlichen Publikationen des Künstlers selber machen das Werk Hans Joachim Albrechts zugänglich und in seinen Entstehungsschritten transparent. Wenige zeitgenössische Künstler reflektieren ihre Arbeit so intensiv und wissenschaftlich fundiert und begleiten jeden Schaffensprozess durch eine eigene – nennen wir es: Poetologie. Ausgangspunkt, Schöpferintention und Werden des Werks Hans Joachim Albrechts also sind bestens nachvollziehbar. Was aber ist wirklich das Ziel aller späteren Arbeiten? (Wie Sie wissen, bindet die Schöpferintention den Rezipienten nicht!) Albrechts Gesamtwerk hat etwas Serielles. Das wissenschaftlich-akribische Experimentieren ist Albrecht nah. Gottlieb Leinz spricht von dem „Durchdeklinieren“ der Formen, das Albrechts Skizzenbüchern ablesbar ist. „Nie“, so hält Leinz schon 1988 fest, „nie ist die menschliche Figur in ihrer vollständigen Erscheinung und als organisch gebildetes Lebewesen Ziel der Darstellung [in Albrechts Werk]. Es geht vorrangig um die Gestaltung einer Form. Die Figur ist eine Art ‚Arbeits-Grundlage’, ein ‚Grundkörper’. Aus ihr wird ein eigener ‚Modul’ gewonnen, der gemeinsame Nenner all ihrer Formen und aller daraus ableitbaren Beziehung. Jede Figur bleibt anonym und ohne Gesichtsausdruck. Sie tritt nicht voll greifbar und abgehoben aus der Reliefplatte, dem Block oder aus der Säule hervor. Und auch Richard Paul Lohse hebt hervor: „Albrecht ist mit seiner Methode zu einem besonderen Ausdruck im Plastischen vorgestoßen und hat durch sein Vokabular ein neues Feld von Ausdrucksformen der rhythmischen Beziehungen im Räumlichen erschlossen.“ Wie Eugen Gomringer festhält, stellen die Skulpturen auf ihre Wirkung in Licht und Schatten ab. Würde man, so Gomringer, zu diesem Werk nicht durch Jahrzehnte so diszipliniert erprobter Abstraktionen des menschlichen Körpers hingeführt – die Vorgabe im Figürlichen wäre kaum noch zu erraten. Albrechts aus dem Figürlichen abstrahiertes Werk berührt die Grenzen der Konkreten Kunst. Seine Köpfe, zum Teil auch die Hockenden, sind thematisch geführte Kombinationen von Stahlplatten, die die Wirkungen der Flächen im Raum immer von neuem ausloten. Jede dieser Figuren treibt ein Verwirrspiel mit dem Betrachter, wenn die Winkelzüge der Konstruktionen das Aussehen der Gesamtskulptur immer im Unvorhersehbaren belassen. Jeder Perspektivenwechsel auf die Figur lässt sie als eine völlig andere erscheinen. Die Figuren sind genau berechnet und scheinen dennoch unberechenbar. Mit jedem Schritt des Betrachters wird das Bekannte von neuem unbekannt. Licht und Schatten setzen die Figur im Tagesverlauf – mit wechselndem Sonnenstand – aus dunklen und hellen Flächen immer wieder neu zusammen. Auf die umgebende Rasen- oder Steinfläche malt die Sonne ein immer wieder fremdes Abbild der Figuren. Hans Joachim Albrecht schafft in jeder Form ein Stück Konkreter Kunst. Nur in ihrem Schatten trifft seine Skulptur sich zuweilen mit dem figürlichen Pendant, aus dem sie entstanden ist.
Ich wünsche Ihnen angenehme Stunden hier im Park. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Cornelie Becker-Lamers, Weimar