Das Gespräch. Alexej Tretjakow

Rede zur Ausstellungseröffnung

Galerie Kunstraum, Jena, 5. Oktober 2012, 19 Uhr

Sehr geehrte Damen und Herren,

viele Assoziationen hält die Einladung zur aktuellen Ausstellung im Kunstraum Jena bereit. Tretjakow - der Name des Künstlers läßt an die berühmte Moskauer staatliche Galerie denken, deren ersten Bestand der erfolgreiche Textilkaufmann und Kunstsammler Pawel Michailowitsch Tretjakow in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammengetragen und zu Ende seines Lebens der Stadt Moskau vermacht hat. Und in der Tat gibt Alexej Tretjakow die Auskunft, daß er in der vierten Generation von den Brüdern Tretjakow abstammt und die Familie den berühmten Namen auch über die kommunistische und stalinistische Zeit gerettet hat, wo die Abstammung von einem erfolgreichen Unternehmer gar keine so ungefährliche Angelegenheit war.

Tretjakow - russische Kunst. Zeitgenössische russische Kunst. Ein gigantischer Erwartungshorizont reißt in uns auf, in dem die Namen der ersten russischen Avantgarde umherschwirren - Rodtschenko, Malewitsch, Tatlin -, aber auch die großen Namen der Kunst der zweiten Avantgarde, etwa der Konzeptualisten um Ilja Kabakov oder Komar und Melamid. Erinnerungen an verschiedenste Arten, Bilder zu machen, rufen diese Namen in uns ab.

Das letzte Bild sei gemalt, hatte Rodtschenko einst verkündet und drei monochrome Leinwände ins Museum gestellt. Dieses Diktum hat viele Künstler, auch und gerade die westliche Kunst auf ihrer Suche nach einem Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg stark beeinflußt. Zeitweilig konnte es im Westen beinahe nur als todesmutig bezeichnet werden, ein expressives, gegenständliches, einfach auch nur schönes Bild zu malen - ohne ironische Brechung, ohne bewußte Übersteigerung in den Kitsch, ohne schwarze Übermalungen oder die Markierung einer Zitathaftigkeit. Ein Bild ohne vordergründige Intellektualisierung. Ein Bild zum Gucken und visuellen Schwelgen: künstlerischer Selbstmord. Es schien nur noch möglich, Kunst zu machen, die sich bewußt, erkennbar und definitiv politisch einmischt. Für die neoavantgardistische Kunst in der Sowjetunion hieß das dann eben beispielsweise, den geradezu zaristischen Pomp der Stalinschen Selbstinszenierung auszustellen oder durch die Einbeziehung von Schrift ins Bild die Sinnentleerung sozialistischer Parolen zu demaskieren.

Bei Alexej Tretjakow aber finden wir den Mut zum Figürlichen wieder, den Mut zum schönen Bild. Zum Abbild der Alltagswelt. Sein pastoser Farbauftrag, seine erkennbare Freude an einer expressionistischen Flächenhaftigkeit in klaren und kräftigen Farben, die hohe Kunstfertigkeit seiner Portraits und nicht zuletzt sein Mut sogar zu religiöser Thematik im klassischen Format, nämlich der Ikone, zeichnet den Maler und exzellenten Zeichner Tretjakow als freien und selbständigen Kopf aus. Er malt, was ihm gefällt bzw. was ihm ins Auge fällt. Den Querschnitt aus seinen Arbeiten, den diese Ausstellung hier präsentiert, zeigt schon, wie wenig Alexej Tretjakow in der Wahl seiner Motive festgelegt ist: Wir sehen Portraits und phantastische, leicht verfremdende Tierdarstellungen, Städtearchitektur und expressionistische Landschaften, Abstrakta wie den silbernen Strudel oder hier die Farbflächen des "Opus No. 3", wir sehen klassische Blumenbouquets, aber auch ein an die Bilder Georgia O'Keefes gemahnendes, surreales Stilleben, dessen Figuren in ihrer Bedeutung zwischen Blüten und Körpern hin- und herzuspringen scheinen. Und wir sehen die Verarbeitung einer Ikone.

"Das Gespräch", das der aktuellen Ausstellung ihren Namen verliehen hat, ist das 2,20 x 1,25 große Monumentalgemälde hier an der Stirnseite der Galerie. Hiermit kommen wir zum gerade für die westliche Kunstszene vielleicht interessantesten Aspekt in der Malerei von Alexej Tretjakow. "Das Gespräch" bildet nämlich erkennbar den Kopf des Erzengels Michael nach, wie er sich in einer echten Ikone Andrej Rubljows findet - das Vorbild hängt übrigens in der Moskauer Tretjakow-Galerie. Rubljow lebte von etwa 1360 bis 1430 und ist für Rußland wohl das, was Giotto für die christliche Kunst Italiens ist: Rubljow war Ikonenmaler, malte aber auch ganze Kirchen aus und wurde 1988 als Heiliger der orthodoxen Kirche kanonisiert. Seine Ikone "Die Heilige Dreifaltigkeit" wurde in ihrer Darstellung von Gottvater, Sohn und Heiligem Geist Mitte des 16. Jahrhunderts (1551) durch die Hundertkapitelsyode als "vorbildlich und dogmatisch verpflichtend festgelegt" (Ökumenisches Heiligenlexikon). Denn Ikonen malen - oder: schreiben, wie man in Anlehnung an das russische Idiom auch sagt - kann nicht jeder. Feste Rituale wie ein vierteljährliches Fasten sind Voraussetzung für die künstlerische Offenheit, ja Durchlässigkeit für Gottes bildliche Botschaft. Denn Ikonen - hier kommt noch ein sehr ursprüngliches Verständnis von Abbildlichkeit zum Ausdruck - Ikonen stellen nicht Gott oder die Heiligen dar, sondern sind selber Fenster zu Gott. Das Heilige ist in der Ikone selbst und wahrhaftig präsent. Es ist hier wie gesagt das ursprüngliche Verständnis von Bildhaftigkeit aufgehoben, wie es auch dem Glauben an eine Realpräsenz der Heiligen in ihren bei Prozessionen mitgeführten Abbildern oder Statuen zugrunde liegt - ein Glauben, der wiederum die Wundertätigkeit von Reliquien erklärt: der wundertätige Heilige ist leibhaftig da. Erinnern Sie sich aber auch an die Fotografenscheu, von der Ethnologen in außereuropäischen Kulturen berichtet haben: Die Menschen hatten Angst, fotografiert zu werden, um mit ihrem Abbild nicht auch ihre Seele herzugeben oder dem Besitzer des Bildes eine magische Macht über sich zu verleihen. Dieses sehr interessante und sehr urtümliche Verhältnis zum Bild also ist auch im Verhältnis zur echten russischen Ikone noch gegenwärtig. So können Ikonen denn auch nicht zum Verkauf, sondern nur personen- oder ortsbezogen zum Geschenk hergestellt werden, weshalb "Das Gespräch" auch keine echte Ikone ist, sondern lediglich das Funktionieren von Ikonen thematisieren kann. "Das Gespräch" ist nicht selber Fenster zu Gott, sondern es erzählt, daß durch die Ikonen der irdische Mensch mit dem übernatürlichen Gott in Verbindung tritt - gerade so wie hier der heilige Erzengel Michael offenbar mit seinem irdischen Gegenüber kommuniziert.

Mehr noch: So, wie hier der Engel mit dem Menschen spricht, soll nach dem Verständnis von Alexej Tretjakow auch die Kunst überhaupt funktionieren: Als Angebot des Künstlers, mit den Menschen in einen Dialog zu treten. In einen ergebnisoffenen Dialog übrigens: Als ich Alexej fragte, ob er in dem von mir als surreal titulierten Blumenstilleben denn den Umschlag der Blüten in die Darstellung von Körperlichkeit angelegt habe, entgegnete er, jeder Betrachter sei frei, seine ganz eigenen Inhalte in den Bildern zu sehen. Also tatsächlich: Kunst als Dialog, zu dessen Gelingen Künstler wie Rezipient gleichermaßen beitragen können und müssen.

So paßt es, daß Alexej Tretjakow nicht nur selber malt, sondern seit Jahren auch Ausstellungen organisiert und andere Künstler dadurch fördert: Seit 2008 ist er als Kurator der irkutischen Bildergalerie "Der wichtigste Stil" tätig. Geboren wurde Alexej Tretjakow 1965 in Angarsk nahe Irkutsk in der Nähe des Baikalsees. Seit 20 Jahren zeigen Ausstellungen seine Arbeiten u.a. in Rußland, den USA, Korea und China und wurden von Galerien und Kunstmuseen in bislang 43 Ländern angekauft. In Deutschland ist der Künstler allerdings noch weitgehend unbekannt, was der aktuellen Ausstellung natürlich ein besonderes Gewicht verleiht. Tretjakow erhielt bereits verschiedene Auszeichnungen und Preise. So wurde sein Beitrag zum Wettbewerb "Das Portrait in der Epochenwende" ausgezeichnet und verhalf Tretjakow international zu größerer Bekanntheit.

Kehren wir nach diesem knappen Abstecher in die biographischen Hintergründe noch einmal zur Malerei, zu den Techniken und Motiven Alexej Tretjakows zurück. Der Künstler hat nämlich nicht nur eine Ikone in einem seiner Bilder verarbeitet, sondern hat auch selber eine echte Ikone gemalt - nach allen Regeln der Kunst, wie ich sie vorhin schon skizziert habe - und zwar nach dem Vorbild der "Heiligen Dreifaltigkeit" von Rubljow. Diese Ikone aber kann eben nicht verkäuflich sein.

Ich habe die Vielseitigkeit in der Motivwahl von Alexej Tretjakow vorhin schon erwähnt. Auch in seinen Techniken ist er vielseitig. Er hat mir, als wir uns kennenlernten, sein Skizzenbuch gezeigt, das seine Zeichnungen versammelt. Er trägt es stets mit sich und fängt ein, was immer ihm als Motiv geeignet erscheint: Die Schraffurzeichnungen zeigen Portraits, Landschaften und Parks, Schlösser und Brücken, Stadtansichten mit hohen Himmeln oder engen Hinterhöfen, sein schlafendes Gegenüber im Zug, eine Serie, die den Stierkampf in Spanien darstellt und und und - jedes Blatt ein Meisterwerk, jedes Blatt, wenn auch augenscheinlich noch so rasch hingeworfen, perspektivisch perfekt, der Gegenstand in den Schraffuren plastisch herausgearbeitet.

Interessant ist es, den Übergang und die Schnittpunkte von Motiven und Techniken bei Tretjakow zu verfolgen. Die perspektivische Perfektion überträgt er aus der Zeichnung in die Malerei seiner Stadtansichten: Sie haben die "Marktkirche" gesehen oder die Ansicht eines Jenaer Altbauviertels, einen städtischen Innenhof und anderes - sämtlich als Blickfang von außen in der Galerie sichtbar. Mit geradezu fotografischem Blick nimmt Tretjakow hier sein Motiv aufs Korn, um von dem realistischen Abbild der Gebäude zuletzt mit der Ausgestaltung des Himmels oder der Schatten doch ganz individuell und auf spezifisch malerische Weise Besitz zu ergreifen. Achten Sie einmal darauf, wenn Sie gleich die "Marktkirche" noch einmal in Augenschein nehmen.

Genauso ergiebig ist es, das Gemälde von Olchon mit der Zeichnung zu vergleichen, die ihm als Vorlage diente. Olchon ist die größte Insel im Baikalsee - der Heimat von Alexej Tretjakow. Die Zeichnung des felsigen Ufers, wie wir es auch auf dem Öl-Acrylgemälde erkennen, findet sich in Tretjakows Skizzenbuch: Die perfekte perspektivische Schraffurzeichnung einer wilden Uferlandschaft. Was aber zeigt uns das Gemälde? Die Uferlandschaft ist verfremdet. Ein anderes Motiv hat sich in den Vordergrund der Darstellung geschoben: Das malerische Einfangen des Windes. "Der Wind der Insel Olchon" ist daher auch der Titel des Gemäldes, denn indem die Zeichnung in die andere Technik, in die Arbeit mit dem Pinsel übertragen wurde, ergriff die Malerei von dem Thema Besitz. Sie sehen die Strudel, die der Arbeit mit dem Pinsel ganz unwillkürlich entsprungen zu sein scheinen. Dargestellt ist nicht mehr das Seeufer von Olchon, sondern die Kraft des Windes.

Neben dem Pinsel ist der Malspachtel erkennbar ein gerne genutztes Werkzeug von Alexej Tretjakow. Dieser Spachteltechnik verdanken wir die Himmel und die Schatten, die großen Farbflächen auf den Landschaftsdarstellungen - sehen Sie hier wiederum eine Landschaftsansicht vom Baikalsee. Aber auch die plastische Herausarbeitung von Licht und Schatten in der Darstellung von Gesichtern, von Personen, verdanken wir dem gespachtelten oder mit breiten Pinselstrich gezielt gesetzten Farbauftrag (sehen Sie "Das Mädchen mit Äpfeln").

Die Blumenbouquets nicht zuletzt sind in ihren frei hin getupften Blüten einfach bezaubernd. Hier kommt nicht nur die Malerei ein weiteres Mal zu sich selbst, sondern es scheint auch das Wesen des Gegenstandes in unvergleichlicher Weise eingefangen: Denn dargestellt sind hier nicht nur die Blumen in ihrer äußeren Gestalt - die äußere Gestalt befindet sich ja eher in impressionistischer Auflösung in Farbtupfer. Nein - das Wesen eines üppigen Sommerstraußes ist hier im Bild eingefangen. Denn was lieben wir an einem Blütenmeer - im Beet oder im Strauß - wenn nicht die Großzügigkeit und Freigebigkeit der Natur, ihre verschwenderische Farbenpracht, ihr Leuchten und natürlich den Duft der Blumen. In den scheinbar hin geworfenen Pinselstrichen des pastosen Farbauftrags scheint sogar dieser Duft eingefangen zu sein. Die Blumen kommen uns förmlich aus dem Bild entgegen - wie Duft uns entgegenströmt, wenn wir uns einem blühenden Strauch nähern.

Ich möchte Sie mit diesen Anregungen nun in die Ausstellung entlassen. Ich wünsche Ihnen einen schönen und anregenden Abend und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar