„Philip Oeser – Neue Arbeiten“

Rede zur Ausstellungseröffnung

im Gespräch mit der Künstler-Gattin, Frau Dr. Müller-Krumbach; Fotos: Helmut Hengst

Galerie Profil, Weimar, 31. Januar 2009

Sehr geehrte Damen und Herren,

es ist mir eine große Ehre, eine Ausstellung zu Philip Oeser eröffnen zu dürfen in dem Jahr, in dem der Künstler ein so großes Jubiläum feiern wird: Oeser, der am 1. Juni 1929 in Nordhausen geboren wurde, vollendet in diesem Frühsommer sein 80. Lebensjahr.

Man könnte angesichts dessen eine Ausstellung mit dem Titel „Retrospektive“ erwarten, das Beste aus vierzig Jahren. Aber nein: „Neue Arbeiten“ sind zu sehen, keine älter drei, vier Jahre, das Satellitenfossil ist das einzige Stück aus dem Jahr 2003. So angegriffen Philip Oeser gesundheitlich in den letzten Jahren zwischenzeitlich auch war – jede Minute, in der er liegen musste, hat er mit intensiver Lektüre genutzt, um vorzuarbeiten und im Kopf das nächste Blatt schon wieder zu antizipieren. Und, sobald er arbeiten konnte, hat er sich in den letzten Jahren noch einmal an eine ganz neue Technik gewagt, obwohl sie ihn körperlich fast an seine Grenzen bringt, nämlich an den Prägedruck. Prägedruck macht Oeser seit etwa 2000, erste Arbeiten, die Morbiden Fragmente oder Gesetz und Zerfall sind in dem großen Buch von Jens Henkel bereits abgebildet. Auch das Weiße Blatt mit Mal, das dem aufsteigenden Dunkel von 2005 sehr ähnlich ist. Aber Sie sehen an der Auswahl der neuen Arbeiten, dass diese Technik bei Oeser jetzt immer mehr zur Entfaltung kommt und in seiner Arbeit immer mehr Raum einnimmt. Wir sehen Prägedruck in Reinform – das ist übrigens das schwierigste: das rein weiße Blatt im Arbeitsprozess wirklich makellos weiß zu erhalten. Aber Philip Oeser wäre nicht Philip Oeser, wenn er nicht auch die neue Technik sofort mit seinen altgeliebten Arbeitsweisen in Verbindung bringen würde: So wird der Prägedruck mit Collagen ergänzt, und wir finden auch unter den jüngsten Arbeiten wieder Copygraphien, nachbearbeitete Copygraphien, Mischtechniken, Décollagen und dergleichen Unikate.

Was fällt thematisch auf? Da haben wir zunächst die Kindheits-Serie, angeregt durch ein Rilke-Gedicht, das die Kindheit als Zeit der Angst, der Trauer, des Verwaltet-Werdens, des „entweichenden Begreifens“ beschreibt. Rilkes eigene Kindheit war nicht unbeschwert: vor seiner Geburt hatten die Eltern eine Tochter verloren, was die Familie, insbesondere die Mutter natürlich nachhaltig belastet hat. Der Vater hatte eine Offizierslaufbahn abgebrochen, war Bahnbeamter, was der Mutter nicht ausreichte: Frau Rilke war Fabrikantentochter und sehr betrübt, dass sie die gesellschaftliche Stellung, in die sie hineingeboren war, in der Ehe nicht halten konnte. Rilke selbst erfand ständig für sich adlige Vorfahren, war also von dieser Idee des Mangels an sozialer Position auch angesteckt. Als Rilke neun Jahre alt war, zerbrach die Ehe seiner Eltern.

Wir kennen im Werk Oesers die Tagebuch-Serie, die alte Fotografien v.a. aus Oesers eigener Familie in Copygraphien verarbeitet. Hier nun also die Hinwendung zu Rilkes Biographie über den Weg zunächst der literarischen Aneignung eines Rilke-Gedichts. Die Fotografien zeigen Rainer Maria Rilke und seine Mutter. „Schrecken lautlos wechselnd mit Vertrauen/ O Trauer ohne Sinn, o Traum, o Grauen“ ist zu lesen. Sie wissen, dass Oeser Schrift in seinen Bildern normalerweise verfremdet. Sie erscheint in Spiegelschrift, in Ausrissen, die kaum Textzusammenhänge lesbar lassen, sie erscheint in einzelnen Worten, die aus verwaschenen Farbflächen aufscheinen (das Blut der Heiligen) oder als Buchstaben fremder Alphabete wie das Alpha und Omega, das zuerst in der Aphrodite-Collage von 2001 auftaucht. Oeser verfremdet Schrift, damit man nicht anfängt zu lesen. (Denn wenn man Schrift sieht, liest man automatisch. Das machen sich Plakate zunutze) Daher verfremdet Oeser Schrift in seinen Bildern, da der Ausgangstext in aller Regel nur Anregung seines Schaffensprozesses ist, in seinem ursprünglichen Gehalt aber nicht mehr zur Deutung des fertigen Blattes taugt. Umso auffälliger ist dann natürlich, wenn, wie bei den Rilke-Gedichten, eine Textzeile richtiggehend inszeniert wird. In diesem Fall muss der eingearbeitete Text selbstverständlich zur Deutung des gesamten Blattes mit herangezogen werden.

Wenden wir uns in diesem Zusammenhang dem Blatt die Bilder flieh’n zu. Das Bild setzt eine Textcollage aus dem zweistrophigen Gedicht Ein Abend von Ludwig Uhland in Szene. Das Gedicht handelt vom Tod einer geliebten Frau. Das lyrische Ich schildert seine Gefühle, die in Aufruhr waren, so lange der tote Körper nicht beerdigt war: „Als noch im Hause lag die bleiche Hülle,/ da wußt’ ich nicht, wohin nach ihr mich wenden;/ sie schien mir, heimatlos, mit Klaggebärde/ zu schweben zwischen Himmel hin und Erde.“ Die Gefühle beruhigen sich, als die Frau beerdigt ist und Trauer wie Erinnerung der Hinterbliebenen einen Ort bekommen haben. Die zweite Strophe schildert die Abendstimmung, die dem ganzen Gedicht seinen Titel gibt: „Da sank die Sonne, graue Schleier fielen,/die Bilder fliehn, die Erde liegt im Schatten.“ In der Dämmerung sieht das lyrische Ich zwei Kinder spielen, die es an sich selbst und die geliebte Tote erinnern.

Sie sehen, wie von Oeser der Text umgestellt, Satzteile neu zusammengezogen und dadurch im Sinn völlig verändert wurden. Zum einen sind die Anfangsworte jedes Verses der ersten Strophe isoliert und wie ein neues Gedicht abgedruckt. Zum andern sind ganze Textzeilen aus dem Zusammenhang gelöst und umgestellt worden. „Die Bilder fliehn die Erde“. „Die Erde“ ist zum Akkusativobjekt des Satzes „die Bilder fliehn“ geworden, bei Uhland ist sie Subjekt eines neuen Satzes: „Die Bilder fliehn, die Erde liegt im Schatten.“ Jetzt: „Die Bilder fliehn die Erde, da wußt ich nicht wohin“. Im Original: „dass wußt ich nicht, wohin nach ihr mich wenden“. Auch wenn man sich vorstellen kann, warum das Gedicht Oeser ursprünglich angesprochen hat, bleibt vom Sinn der Uhlandschen Worte nichts übrig. Die Orientierungslosigkeit, die mehr oder weniger verzweifelte Suche des lyrischen Ich ist in Oesers Bild nicht mehr vom Tod eines geliebten Menschen motiviert. Aus dem menschenzentrierten Gedicht ist ein kunstzentriertes Bild geworden. Thematisiert wird nicht der Verlust eines Äußeren, eines anderen Menschen, sondern der Verlust des Ureigenen: der Verlust der Bildkünstlerischen Sprache und damit der Verlust der eigenen Ausdrucksmöglichkeit – letztlich der eigene Tod als Künstler: Was tun, wenn die künstlerische Inspiration ausbleibt, wenn die Umstände einem die künstlerische Sprache verschlagen, wenn die eigenen Ausdrucksmöglichkeiten den künstlerischen Händen entgleiten? Gesetzt ist diese neue Thematik in Form eines Buches. Dass das ganze Bild wie ein Buchrücken aussieht, ist von Oeser intendiert. Die Worte von den fliehenden Bildern sind durch mehrere Fetzen decollagierten Papiers augenfällig gemacht: Die Worte werden unleserlich, das sichere Bild verschwimmt, die Imagination entzieht sich dem künstlerischen Zugriff.

Nun aber zu Philip Oesers ganz großem Thema der letzten Jahre: Die Apokalypse. 2007 hat Oeser eine 24teiligen Apokalypse-Zyklus fertiggestellt, der für viele der hier zum Verkauf stehenden Arbeiten wichtig ist: Wir haben hier Vorarbeiten zum Zyklus (Warnung) oder Varianten eines Blattes des Zyklus (das Blut der Heiligen). Apokalypsis heißt griechisch schlicht die Enthüllung, die Offenbarung. Man denkt ja gerne, es heiße Untergang, weil das Wort „apokalyptisch“ im Deutschen diese Konnotation bekommen hat. Es ist aber einfach die „Offenbarung des Johannes“, letztes Buch der Bibel, das Johannes der Evangelist auf Patmos seinen Visionen und gehörten Stimmen gemäß niedergeschrieben haben soll. Die Legenda Aurea berichtet, Johannes sei aufgrund seiner großen missionarischen Erfolge von Kaiser Domitian nach Rom verschleppt und in siedendes Öl geworfen worden. (Wenn Sie sich erinnern, ist dies genau auch das erste Blatt der Dürerschen Apokalypse-Folge, die für Oeser natürlich auch eine große Rolle spielt.) Johannes überlebt die Marter aber unbeschadet und wird nach Patmos vor Ephesos verbannt. So sah er dann aus.

Aus der Apokalypse stammt das Alpha und Omega, das viele der jüngeren Bilder bestimmt – mal ohne Zusatz von Farbe neben einen geprägten Kreis gestellt – gewissermaßen transzendent – mal in einen Kreis integriert, farblich sogar überlagert. Es ist nicht mehr das Aphrodite-Alpha, sondern das Alpha und Omega der Apokalypse. Denn der, der Johannes mit Donnerstimme das zu Schreibende diktiert, stellt sich folgendermaßen vor: „Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende, spricht Gott der Herr, der da ist und der da war und der da kommt, der Allmächtige.“ Das ist interessant, denn wenn als Symbol für Gott, als Bild für Anfang und Ende der Welt Anfang und Ende des Alphabets gewählt werden, heißt das, das alles Text ist. Alles ist beschreibbar und ist geschrieben. Und in der Tat ist das eine der Kernaussagen der Apokalypse: In einem großen Buch ist alles vorgeschrieben, die 144 000, die gerettet werden, werden gekennzeichnet und gehen zuletzt ins Himmlische Jerusalem ein. In einer der Schreckensvisionen rollt sich der Himmel auf „wie ein Buch“: die Welt ist Text.

Das Buch der Offenbarung ist bestimmt von Zerstörungsvisionen – die Konnotation des Untergangs kommt ja nicht von ungefähr. Eine wichtige Rolle spielen vier Reiter auf einem weißen, einem roten, einem schwarzen und ein fahlen Pferd. Die Reiter bringen Unheil und Tod. Das fahle Pferd ist in die Apokalypse-Serie Oesers eingegangen – und kehrt in der Rilke-Serie als hölzerner Schaukelpferdekopf wieder! (Das Bild des Unheils und des Untergangs also noch einmal in der Kindheit-Serie zu Rilke versteckt.) Wichtig weiterhin sieben Engel, die aus sieben Schalen des Zorns Zerstörung über der Erde ausgießen. In diesen Kontext gehört das Blatt das Blut der Heiligen, hier steht eine Variation eines Blattes aus der Apokalypse-Serie zum Verkauf. Die Worte des „Blutes der Heiligen“ – „trinken“ – sind in dem tiefroten Teil des Bildes lesbar.

Oeser nimmt, wenn man sich mit ihm unterhält, die Schreckensvisionen durchaus für bare Münze: Sind die Nachrichten doch voll von genau den Ereignissen, die hier geschrieben stehen: Gewässer kippen um, eine Ölpest vernichtet die Tierpopulation eines Küstenstreifens, ein Drittel der Menschheit hungert, Waldbrände verwüsten riesige Landstriche – und vor allem: diejenigen, die verschont bleiben, kehren nicht um und tun Buße, sondern lästern Gott und opfern weiter ihren Götzen. Alles vollzieht sich, wie es im Buche steht. Was aber setzt Oesers Kunst wirklich um? Ist es die endgültige Zerstörung? Vergegenwärtigen Oesers Bilder das teleologische, also auf ein Ziel hin ausgerichtete christliche Weltbild – alles wird zerstört und 144 000 bleiben im Himmlischen Jerusalem?

Nein! Oesers Kunst sagt etwas anders. Wohl sehen wir Zerstörung wüten – in der Bedrohlichen Erscheinung etwa: Hier ist etwas Dunkles am Boden, das aufzusteigen droht, Feuer und Flammen stürzen das Innere der Kreise ins formlose Chaos. Aber: eben wirklich nur das Innere der Kreise. Die Kreisformen selber bleiben stets makellos, intakt, unberührt von der Zerstörung, die Zerstörung ufert nie aus, sie bleibt immer geborgen in einem größeren zyklischen Prinzip, das das Chaos in eine Ordnung zurückführt. In meinen Augen ist die Dominanz dieses Ordnungsprinzips so stark, dass ich bei der Bedrohlichen Erscheinung das Bedrohliche zunächst gar nicht wahrgenommen habe. Das Blatt erinnerte mich an mittelalterliche Darstellungen der Sphärenharmonie – also der Idee, dass die Planeten auf ihren damals als kreisrund gedachten Bahnen um die Erde eine Himmelsmusik erzeugen. Es liegt zunächst durchaus im Auge des Betrachters, wie man die verschiedenen Elemente dieser Bilder – Zerstörung und Ordnung – gewichtet. Zuletzt jedoch wird die Interpretation der Ordnung die Oberhand behalten. Metamorphosen sind Oesers Thema, die Verwandtschaft und Verwandlung der Formen, nicht deren Zerstörung. Sehen wir hierzu die Aristolochia L’Herit: Sie ist einmal als ganzes Blatt, einmal als Gerippe in eine Prägung geklebt. Das Blattgerüst, das sich in immer kleinere, sich selbst ähnliche Formen auflöst, hat Oeser fasziniert. Das Blattgerüst, das aussieht wie eine Wanderkarte mit Feldwegen und vereinzelten Gehöften. Die Verwandtschaft der Formen ist das, was Oeser sichtbar machen will.

Zyklisches Denken atmet ja auch das Uhlandgedicht Ein Abend. Der Tod der geliebten Frau wird durch die Wahrnehmung zweier Kinder, „so blühend, wie einst wir geblühet hatten“, in der zweiten Strophe aufgehoben. Auch wenn er einen großen Apokalypse-Zyklus schafft, denkt Oeser letztendlich positiv: dass alles Vergehende wieder in ein Werdendes überführt wird.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar