Würfelsequenzen, Pixelsound

Rede zur Eröffnung der gleichnamigen Ausstellung

Kunsthaus Erfurt, 3. Feb. 2006

Sehr geehrte Damen und Herren,

die Ausstellung „Würfelsequenzen, Pixelsound“ möchte den „Grenzbereich zwischen aktueller Bildender Kunst und zeitgenössischer Musik“ beleuchten. So heißt es im Ausstellungskonzept. Ziel der Kuratorin Tely Büchner und der Künstler“paare“ ist es, Einblicke in „Prinzipien visueller und musikalischer Komposition“ zu geben. Gezeigt werden darum „bildhauerische und zeichnerische Konzepte zum Thema Musterbildung“, die jeweils Anregung zur Genese musikalischer Formen gegeben haben.

Meine Aufgabe ist es, Ihnen sowohl die vier in jedem Fall komplexen und voraussetzungsreichen Arbeiten zu erläutern und die Brücke von den Arbeiten zur Zielstellung der Exposition zurück schlagen.

„Würfelsequenzen“: Tobias Stengel ist Bildhauer und bündelte sein Interesse während seines Studiums um die formalen Aspekte der menschlichen Figur. Doch im Verlauf seiner Arbeit als freier Künstler beschlich ihn das Misstrauen gegenüber der Subjektivität und Willkür dieser erlernten Kunstproduktion. Er suchte nach einem neuen, objektiven Regelwerk, das sein Schaffen begründen könnte. 1994 fand er die Grundform zu diesem neuen Regelwerk, und er fand sie ausgerechnet im Inbegriff des Beliebigen und Zufälligen: im Würfel. Der Würfel – lateinisch alea, die Würfel, daher das Wort Aleatorik für eine vom Zufall bestimmte Kunst oder Musik – der Würfel mit seinen sechs Flächen und 12 Kanten wurde zum Baustein von Musterreihen, die als Abdrucke im Zweidimensionalen oder als plastische Gebilde zu Objekten im Raum zusammengestellt werden.

In den mittlerweile 12 Jahren seiner Beschäftigung mit dem Würfel fand Tobias Stengel mit wissenschaftlicher Akribie und künstlerischer Obsession heraus, daß es genau 40 verschiedene Möglichkeiten gibt, den Würfel über Flächen und Kanten abzurollen und so 40 verschiedene Grundmuster – „Module“ zu erzeugen. (Beim Abrollen müssen jeweils 6 Schritte vollzogen werden, also zunächst das Abrollen der 6 Flächen, dazu gibt es, mathematisch erwiesen, 11 Möglichkeiten; dann das Abrollen über Flächen und Kanten. Jeder Abrollvorgang muß zum Ausgangspunkt zurückgeführt werden, so daß stets ein geschlossener Würfel aus dem Abrollmuster gebaut werden könnte. So kommt Stengel zu den 40 Varianten).

Aus diesen Modulen können nun – frei von Emotionalität – die verschiedensten Formen und „Testreihen“ kombiniert werden, die in aller Ruhe ihre Wirkungen und ästhetischen Potenziale aus dem Zusammenspiel von Form und Materialität ausloten. An dieser Wand sehen Sie unzählige Abgüsse ein und desselben Abrollvorgangs – ich habe ihn „Schlüssel“ genannt, weil jedes einzelne Wachsobjekt wie ein Schlüssel aussieht. – Der Würfel wurde dazu in einer Sandschicht abgerollt und das entstehende Model mit Wachs ausgegossen. Jetzt haben wir eine „Fuge“ (eine Jagd) der Elemente, oder auch eine Setzung von Punkt gegen Punkt, punctus contra punctum – Kontrapunkt.

Kontrapunkt. Zusammenstellen. com-ponere. Stengel komponiert, und er sprach von seinem Vorhaben 1994, als die Idee ganz frisch war, mit dem israelischen Komponisten Yuval Shaked. Die beiden begegneten einander 94 im Künstlerhaus Schloß Wiepersdorf. Shaked assoziierte zu den 40 Grundmodulen aus Stengels Arbeit sofort die 48 Reihenformen, die dem Komponisten eines streng nach den Regeln der Dodekaphonie (12-Tontechnik) komponierten Musikstücks zur Verfügung stehen. Überhaupt – 12 Kanten des Würfels – 12 Töne der chromatischen Tonskala (Halbtonleiter) – eine Umsetzung des neuen bildkünstlerischen Prinzips der Würfelsequenzen in eine musikalische Komposition ergab sich sehr zwanglos. Sie drängte sich förmlich auf.

Was ist die Idee der Dodekaphonie, der 12-Tontechnik? Man verbindet sie mit Arnold Schönberg, der sie 1923 zeitweilig zu seinem Kompositionsprinzip machte. Hintergrund war auch hier ein Misstrauen: gegenüber der emotionsüberladenen Musik der Spätromantik und gegenüber der Ungleichberechtigung und Unterordnung von Tonqualitäten: Eine Grundtonart, Tonika, bezieht Dominante und Subdominante auf sich, die hier nicht gebrauchten Töne sind untergeordnet, konsonante Intervalle werden höherbewertet als dissonante etc. So funktioniert in groben Zügen die tonale Harmonik.

In der Atonalität der 12-Ton-Musik sind die 12 Töne der chromatischen Tonleiter nur aufeinander bezogen. Der Schlachtruf der Zeit war die „Emanzipation der Dissonanz“. Eine 12-Tonreihe organisiert die Tonbeziehungen der 12 Töne, die Intervalle. Sie darf im Verlauf einer Komposition umgekehrt (von hinten nach vorne gelesen; "Krebs"), die Intervalle von oben nach unten gekippt und dieses Kippen wiederum umgekehrt werden. Das führt zu vier Varianten einer Reihe, die noch auf elf andere Ausgangstöne transponiert werden kann. So gelangt man zu der Zahl von 48 Reihenformen, die eine ganze Komposition bestimmen können. Jeder Ton darf erst wieder erklingen, wenn alle anderen der Reihe erklungen sind. Eine völlige Gleichberechtigung der Töne ist realisiert.

Die Musik von Yuval Shaked ist keine strenge Zwölftonmusik. Das Kompositionsprinzip hat sich in seiner Strenge und Reinheit nicht sehr lange durchhalten lassen. Aber Sie hören in der „40maligen Gegenwart“, Shakeds Antwort auf Stengels Würfelmuster, natürlich durchaus atonale Musik, d.h. Musik, die sich nicht mit dem Schema untereinander abhängiger Tonarten von Tonika, Dominante und Subdominante fassen lässt. Es ist dissonante und zutiefst aufmüpfige Musik, Klangteppiche, die jäh von Beckenklirren oder schreienden Klarinettentönen zerrissen werden. Die Instrumente werden auf unkonventionelle Weise gebraucht, bei den Blasinstrumenten wird nicht notwendigerweise das Rohrblatt zum Klingen Was aber beim ersten Hinhören so frei und tabubrechend klingt, ist harte kombinatorische Arbeit von Yuval Shaked, die den Komponisten auch zum Zeichner werden ließ. Auf Shakeds Schreibtisch stand ein Kubus, den 12 Kanten ordnete er die 12 Töne zu, die die chromatische Skala ihm vorgibt. Jede der sechs Würfelflächen wird somit als Akkord hörbar gemacht, und jede Würfelfläche klingt wie die vier Töne, die ihren Kanten zugeordnet wurden. Shaked hat die Flächen außerdem mit speziellen Klangverläufen verbunden, was dann wiederum die Instrumentengruppen bestimmt, mit denen der Klang erzeugt werden kann. (Sehen Sie hier das Schema an der Wand). Nach den 40 Modulen, die Stengels Abrollungen ihm vorgeben, komponierte Shaked 40 Ton- und Akkordfolgen. Und eben dies erforderte vom Komponisten selbst noch einmal Hunderte von Zeichnungen und Skizzen mit durchnummerierten Würfelflächen und Kanten. (Nach Beendigung der Komposition sind dann die Collagen aus den Skizzen entstanden.) Die Freiheit, die Tonpositionen und Intervalle in jeder beliebigen Oktave zu realisieren, konnte Shaked wiederum aus der Dodekaphonie übernehmen.

Matthias Geitel war auch in Wiepersdorf, aber ein Jahr nach Stengel und Shaked. Er war aber auch in Griechenland, im Jahre 2000, und hier ist der „Zeichen“-Zyklus IOCYAN entstanden. Dieser Zyklus besteht aus 240 einzelnen „Zeichen“. Es sind ganz reduzierte Zeichnungen, entstanden mithilfe eines Goldstiftes und eines cyanblauen Edding entstanden. Der Phantasiename IOCYAN spielt auf dieses cyanblau an. Io meint die griechische Göttin. Es sind Erinnerungsspuren, die sich in den reduzierten Zeichnungen niedergeschlagen haben. Es existiert aber keine, auch nicht die kleinste Gruppe von Eingeweihten, die die Verweise und das in den „Zeichen“ Gespeicherte entschlüsseln könnte. Man muß die Zeichen also nehmen, wie sie sind. Diese Zeichen hat Geitel zu 42 quadratischen Musterplättchen – eben den „Pixeln“ (Bildpunkten am Computer) – zusammengestellt, ein, zwei Zeichen pro Quadrat. In größeren Quadraten werden je 10x10 Pixel gruppiert. Auch hier haben wir eine Versuchsanordnung, eine Testreihe, die ästhetische Profile auslotet und immer wieder die verschiedenen zugrundeliegenden Module optisch ins Gleichgewicht bringt: Dichte und luftige Transparenz der verschiedenen Musterplatten sowie ihre beiden Farben.

Dies war zunächst das Ziel der Arbeit von Matthias Geitel. Man kann aber sehen, was er geschaffen hat, als er die Pixel in dieser Weise gruppierte: Ausgehend von dem Wissen, daß die kleinsten Zeichenelemente Erinnerungsspuren verschlüsseln – wie auch immer lesbar für jeden einzelnen -, stellen die großen Quadrate offenbar so etwas wie Gedächtnis dar. Und wie wir im Gedankenstrom immer wieder an bestimmten einprägsamen Erinnerungen vorbeikommen, uns immer wieder bestimmte Sachen einfallen, so stößt der Betrachter der Musterplättchen immer wieder auf bestimmte wiederkehrende „Zeichen“.

Man kann also extrapolieren, was hier plötzlich darstellbar wird: Angenommen, in einer 10x10-Pixelplatte würde jede Zeile auf dasselbe Musterplättchen zulaufen, von Zeile zu Zeile vielleicht schneller, bis ein Pixel alleine das ganze große Quadrat bestimmt: Das wäre die Verschlüsselung eines Traumas, einer Erinnerung, die alles andere zudeckt und das gesamte Gedächtnis blockiert. Man sieht auch, was passiert, wenn man ein Pixel entfernt – das wäre die Darstellbarkeit der Verdrängung. Andere Pixel rutschen nach, es gibt „Deckerinnerungen“, wie Sigmund Freud das genannt hat, die an die Stelle des Verdrängten treten. Aber das „seelische Gleichgewicht“ – hier darstellbar durch die ursprüngliche ästhetische Ausgewogenheit des Gesamtbildes – ist nicht mehr gegeben.

Es wird aber auch das kulturelle Gedächtnis darstellbar: Das kollektive Gedächtnis einer Gemeinschaft. Das führt uns Geitel in dem New York-Bild vor: Tausende von Einzelzeichen – Einzelerinnerungen also – verschwinden in einem einzigen großen Bild, das sich aus ihnen zusammensetzt, ohne die Einzelzeichen nicht existierte, die Einzelzeichen in ihrer Menge aber zugleich unsichtbar macht. Nur ein Forscher kann sie unter die Lupe nehmen und einzeln wieder hervortreten lassen. So funktioniert das kulturelle Gedächtnis.

Matthias Geitel hat das ganz besonders gut vorgeführt, indem er uns ein Bild zeigt, das nur noch im kulturellen Gedächtnis existiert: die New York-Skyline mit den Türmen des World Trade Center. Sobald wir die Türme erkennen, läuft ein ganzer Film in uns ab, der mit der Zerstörung dieser Türme zusammenhängt. In den USA ist es das Bild einer ganzen Generation – einer Epoche -, das Geitel uns zeigt. Es ist ein Paradebeispiel für den Begriff des kulturellen Gedächtnisses, da das Bild, das wir unten an der Wand sehen, nicht mehr in der Realität existiert. Es ist also eine unglaublich leistungsfähige Matrix, die Geitel mit seinen Pixeln geschaffen hat.

Thomas Offhaus hat die Komposition „100 Töne“ zu diesen Pixelplatten geschaffen. Er hat sich dazu ein ungeheuer kompliziertes System ausgedacht. Er nimmt eine Pixelplatte, 10x10=100 Pixel. Er nummeriert sie durch und greift damit auf eine alte Verrätselungstechnik zurück: Gleiches Bild, gleiche Zahl, verschiedene Bilder, verschiedene Zahlen. So kommt er auf ein „Magisches Quadrat“, das in unterschiedlicher Reihenfolge gemischt – je nach Vorbild der Pixel – die Zahlen 1-16 aufweist. Das Magische Quadrat teilt er, oben links beginnend, in Vierergruppen auf, fünf Vierergruppen je zwei Zeilen, ergibt 25 kleine Quadrate mit je vier unterschiedlichen Zahlen. Den vier Zahlen jeder Vierergruppe ordnet er die Ideen von Tonhöhe, Lautstärke, Tondauer und Position innerhalb der Partitur (wann erklingt der Ton) zu.

Was die Tonhöhe betrifft, bot sich durch die 16 verschiedenen Zahlen zunächst an, einfach zwei Oktaven einer tonalen Durtonleiter zu verschlüsseln. Da sich dann aber im Zusammenklang fast nur Konsonanzen und damit ein reibungsarmer, zuletzt langweiliger Klang ergeben hätten, entschied Thomas Offhaus sich für die Errechnung der Quersummen. Er erhielt so eine Bandbreite von Ziffern zwischen 1 und 9 und ordnete sie chromatischen Intervallen, beginnend bei der kleinen Sekunde, bis hin zur großen Sexte zu.

In puncto Lautstärke ist Offhaus auf den Wertebereich des Computerinterface angewiesen, das ihm 126 verschiedene Lautstärkestufen vorgibt. Von den Zahlen in seinen kleinen Quadraten nimmt er wiederum die Quersumme und multipliziert die jeweils mit 14 (9x14=126) und erhält so eine starke Differenzierung für seine Lautstärkezuordnung zu den einzelnen Tönen.

Die dritte Zahl gibt Offhaus die Tondauer vor. Jede vorgefundene Zahl wird, die Quadratidee aufgreifend, mit 4 multipliziert, so daß sich mögliche Tonlängen zwischen 4 Sekunden und 4x16=64 Sekunden ergeben. Das längstmögliche Stück ist das, wo der längstmögliche Ton zuletzt angespielt wird: 64+64 sec=128 sec. Was die Position des Tones in der Partitur betrifft, so gibt die vierte Zahl, wiederum mit 4 multipliziert, den Zeitpunkt vor, nach wie viel Sekunden der betreffende Ton in den Gesamtklang eintritt.

Offhaus hat ein sehr klares, sehr durchdachtes und logisches Kompositionsmodell geschaffen, das es ihm ermöglicht, die Pixelplatten von Matthias Geitel ganz „objektiv“ in Musik zu übertragen: So klingen diese Platten, und es wird vorausberechenbar, wie die nächsten Bildkompositionen klingen würden, setzte man sie nach demselben Schema in Töne um. Auf „100 Töne“, die der Arbeit den Namen geben, kommt Thomas Offhaus, indem er die Pixelplatten einmal um sich selber dreht, bei jeder Drehung um 90° erhält er andere Zahlenkombinationen in seinen kleinen Vierergruppen, die dann nach demselben Schema in Töne verwandelt werden. So ergeben sich zu guter Letzt 100 Töne, wobei jedes Pixel (jede Zahl) einmal für die Tonhöhe, einmal für die Lautstärke, einmal für die Tondauer und einmal für die Position des Tons in der Partitur verantwortlich war: Die vollkommene Gleichberechtigung der Töne – wie in den dodekaphonen Reihen!

Soviel zu den Einzelarbeiten. Wie sieht es mit der Rückbindung der einzelnen Werke an das Ausstellungskonzept aus? Wir haben gehört, Ziel war, Einblicke in „Prinzipien visueller und musikalischer Komposition“ zu geben. Und in der Tat haben wir vier Arbeiten vor uns, die gewissermaßen doppelcodiert sind: Auf den ersten Blick oder Höreindruck hin erkennen wir ästhetisch geordnete, aber nicht weiter aufregende Kunstwerke: Höreindrücke, die auch einfach willkürliche Cluster sein und Bildmuster, die auch Omas Wachstuchdecke imitieren könnten. Wer sich mit den Arbeiten befasst, entdeckt hochartifizielle Kompositionsprinzipien hinter den Plastiken, Bildern und Klangteppichen. Durch grundlegendes logisches Denken und eiserne Disziplin in der Durchführung der selbstgesetzten Regeln sind sehr leistungsfähige Kunstwerke entstanden, die eine große Interpretationstiefe zulassen – zum Beispiel hinsichtlich der Darstellbarkeit von Erinnerungsvorgängen.

Was sagt uns das ganz prinzipiell zu den Regeln zeitgenössischer Bild- und Tonkomposition? Neue Kunst braucht – den neuen Rezipienten. Wir freuen uns, daß Sie dazugehören.

Vielen Dank!

Cornelie Becker-Lamers, Weimar