Timm Kregel. Die Gabe der Landschaft

Rede zur Ausstellungeröffnung

Mit Timm Kregel; Foto: Werner Senzel

Wandelhalle Bad Wildungen, Sonntag, 12. Oktober 2014

Sehr geehrter Herr Bürgermeister, sehr geehrter Herr Weller, lieber Timm Kregel, meine sehr geehrten Damen und Herren!

Sie haben Timm Kregel nach Bad Wildungen geholt, und er präsentiert seine Werke unter dem vielsagenden Titel "Die Gabe der Landschaft". Es ist ein Titel, den Timm Kregel selber gewählt hat und mit dem er lange, wie man so schön sagt, schwanger gegangen ist, der jedoch zunächst offen läßt, ob der Künstler selbst eine besondere Gabe zur Landschaftsdarstellung verspürt, eine Gabe zur besonderen Landschaftsdarstellung oder ob er uns auf die Landschaft als nie versiegenden Quell künstlerischer Inspiration hinweisen will. Im folgenden wird allerdings rasch klar werden, worin die besondere Bedeutung der Landschaft im Werk Timm Kregels besteht.

Im Eingangsbereich, noch vor der Tür, begrüßt uns erstmal der "Schleier" mit seinen drei langen, fragilen Armen. Die Form dieses Aluminiumgusses existierte, wie die meisten anderen Skulpturen dieser Ausstellung auch, in denselben Abmessungen, ebenfalls 3,20 m hoch, zunächst in Holz. Der "Schleier" in farbig gefaßter Eiche ist eine Arbeit aus dem Jahr 1999. Das ist das Jahr, bevor Timm Kregel die Außenfassade des Römischen Hauses im Park an der Ilm in Weimar rekonstruierte und durch die überwältigende Präsenz der Natur in dieser Arbeitsphase - gewissermaßen einem Atelier im Außenraum (seinem ersten, es gab einige Jahre später im Belvederer Park in Weimar noch einmal eines) - durch die überwältigende Präsenz der Natur innerlich den Grundstein zu unserer heutigen Ausstellung "Die Gabe der Landschaft" legte.

Denn man findet diese Gabe der Landschaft in der Gestalt einzelner Werke Timm Kregels wie in seiner Arbeitsweise. Immer wieder ist in Texten zu dieser Kunst hervorgehoben worden, daß sie einen ganz eigenen Kosmos schafft. Daß sie sich nicht einfügt in unsere Welt, kaum vereinbar scheint mit unserer bebauten Umgebung. Daß diese Kunst verwirrt und beunruhigt, weil sie uns in eine phantastische Gegenwelt entführt, besiedelt mit pflanzenartigen Gebilden - man ist versucht zu sagen: Gewächsen - die dennoch unverkennbar auch Teile der uns bekannten Umgebung zeigen: Gefäße, Scheiben, Verästelungen, Geflecht. Betrachter sind zunächst ratlos, weil sie nicht zu entscheiden vermögen, welche Bilder diese Gegenwelt in uns abruft: Natur, archaische Kultur oder sogar fiktionale Welten einer außerirdischen Zivilisation (denken Sie an "Kabinett II" oder auch an "Das Gefährt" im südlichen Innenhof - beides Kunstwerke wie kleine Raumfahrzeuge). Erinnern uns die erkennbaren Elemente an Blütenkelche von Pflanzen (etwa in der "Nana", zuerst als Holzskulptur in farbig gefaßter Pappel 2002) oder an die Trinkpokale einer erloschenen Kultur? Bilden feine, sich kreuzende Linien, wie sie uns in etlichen Werken bei Kregel begegnen, eine natürliche Verästelung ab oder zeigt sich hier, wie unter dem Mikroskop vergrößert, die zerschlissene Textur eines jahrhundertealten Gewandes? Nicht selten scheint das Werk Timm Kregels eben genau den Umschlag von Natur in Kultur thematisieren zu wollen: Waren etwa Trinkhörner doch zunächst tatsächlich Tierhörner, bevor sie handwerklich in der bewährten Form als Gefäße nachgebildet wurden.

In den Grundformen wie in der Ausführung tragen Kregels Skulpturen die Züge des Naturhaft-Organischen, Vegetabilen, Knospenden und Wachsenden. Denken Sie an das "Gefieder", an "Florus", an die "Fülle" oder auch "Nana" (im Raum), deren Blütenkelche auseinander hervorzuwachsen scheinen. Diese Reihung gleicher Formen, wie wir sie in "Nana" sehen, begegnet uns im Werk Timm Kregels noch öfter. Diese aufeinander aufbauende Serie im Prinzip gleicher, jedoch naturhaft leicht variierter Formen, die nicht identisch, sondern gewissermaßen verschwistert sind, sehen wir ebenfalls in "Für B.", in "Des Ufers stille Betten", als gleichgeordnete Reihung wie die sprichwörtlichen Orgelpfeifen nebeneinander auch in der "Furt", in "Rebrad", im "Mittagsmeer" sowie den entsprechenden Holzschnitten desselben Motivs ("Salztragen"). Die Kunstwerke befinden sich alle hier auf dieser Etage.

Das Werk "Belvedere" aus Buchenholz ist mit einer sehr feingliedrigen Kettensäge - wie immer bei Timm Kregel - aus einem einzigen Stamm fertiggestellt und zeigt ein zartes Netz oder Geäst hölzerner Streben, dem am Fuße drei, an der Spitze zwei Hörner oder Gefäße beigegeben sind. Die Dreizahl und die Dopplung einer Form sind übrigens in Kregels Werk häufiger anzutreffen (vgl. "Für B."). Man kann das ohne viel Mühe auf einen Ausgleich von vollkommenem trinitarischem und dualistischem Denken hin deuten - zu den Dualismen würde ja auch das Gegensatzpaar von Natur und Kultur wieder gehören, die in einer Balance gehalten werden müssen, damit die Welt nicht aus den Fugen gerät. Aber das nur nebenbei.

Stets bleiben bei der Betrachtung der Skulpturen und Drucke Timm Kregels Ungewißheiten offen - und die Werktitel geben in der Regel keinen Aufschluß darüber, wie eine Arbeit zu verstehen sei. Sie sind in den meisten Fällen mehr oder weniger kryptische assoziative Hinweise, die eine bestimmte Stimmung wachrufen, ein Werk aber für uns nicht entschlüsseln können oder sollen.

Gewiß aber ist, wir haben bereits Beispiele genannt, daß die Landschaft tatsächlich einen prägenden Einfluß auf das Kunstschaffen von Timm Kregel besitzt. Wobei der Begriff Kunstschaffen eigentlich schon falsch ist. Denn was Timm Kregel der Natur vor allem abzulauschen scheint, ist die Fähigkeit, seine Werke wachsen zu lassen. Das Entstehen-Lassen, das Werden-Lassen und Sein-Lassen ist eine Gabe - eine der Gaben der Landschaft - die den Künstler Timm Kregel auszeichnet. Zu dem Entstehen-Lassen gehört dabei zweierlei: Zum einen das Sichtbarmachen oder Sichtbarlassen der Bearbeitungsspuren im fertigen Werk, das Kregel sehr wichtig ist und das er sowohl im Holz als auch in den Werkstoffen Aluminium und Bronze für seine Werke nutzt und zum anderen die Entwicklung von Motiven, die sich in mehreren Kunstwerken niederschlägt und richtiggehend "Filiationen" eines künstlerischen Gedankens hervorbringen kann. Ich habe vorhin mit Absicht ja von "verschwisterten" Formen gesprochen. In der Regel wird ein Formgedanke bei Timm Kregel auf sein ganzes Potenzial hin in mehreren Kunstwerken ausgelotet: Nehmen Sie den "Blaufund" (hier im Raum und auch auf der Einladung und dem Katalogtitel), dessen Form im Zentrum einer der "Schattensonnen" wiederkehrt und auch den Holzschnitt "Zug" ausmacht.

Wenden wir uns der Motiventwicklung bei Kregel genauer zu und betrachten hierfür den Holzschnitt "Der Wechsel/ Die vier Elemente". Wir sehen vier Tiere, Drache, Fisch, Elefant und Adler, die den vier Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft sowie deren alchimistischen Symbolen, den verschieden Dreiecken, zugeordnet sind. Hier stutzen wir allerdings das erste Mal: Wir sehen vier Tiergestalten. Kein organisches Pflanzengewächs, sondern figürliche Abbildungen. Das ist eigentümlich im freien Werk Timm Kregels - um nicht zu sagen, diese vier Tiere sind die einzigen figürlichen Darstellungen, die Eingang in die freien Arbeiten Kregels gefunden haben. Im Auftragswerk Kregels sind figürliche Darstellungen häufiger, da kennen wir Altargestaltungen mit Mondsichelmadonna und Abendmahlsszene; wir kennen den ganzen Reigen der griechischen Götterwelt, die das Römische Haus in Weimars Park an der Ilm zieren und die Timm Kregel im Jahr 2000/2001 hat. Also: Er kann selbstverständlich figürlich, aber er will normalerweise nicht, im freien Werk spielt die figürliche Darstellung keine Rolle, und so stellt sich denn heraus, daß auch diese vier Tiere ihren Ursprung in einem Auftragswerk haben, sie stammen von einem Kunstwerk im öffentlichen Raum, die Vorlagen zu dem Druck "Der Wechsel" hat Timm Kregel im Zusammenhang mit einer Innenstadtgestaltung geschaffen.

Den Tieren zugeordnet finden wir nicht nur - in der Tradition barocker Emblematik - die Elemente, sondern auch die vier Himmelsrichtungen. Isoliert finden wir diese Figuren mit den Schriftzügen in vier Prägedrucken, die ebenfalls "Wechsel" heißen. Und wir finden drei von ihnen in dem Aluminiumguß "Orbis terrae" (im Innenhof), dessen große Kreisform, zwischen vier Ständerbeine gehängt, wiederum auf ein hölzernes Vorbild aus dem Jahr 2002 zurückgeht, nämlich auf "Godzos Weg", einer große runde Scheibe, aufgebaut aus vielen kleinen Holzstücken verschiedener Hölzer.

Von der Kunst im öffentlichen Raum über die Prägedrucke bis hin zu "Orbis terrae" laden sich die vier Tierfiguren mehr und mehr zu Symbolen eines alten Wissenssystems, ja alter Weisheit auf: mit den Erkenntnissen nämlich der Sterndeuter, leiten sich die Begriffe für die Himmelsrichtungen doch von Gestirnen ab: oriens und occidens von oriri und occidere, also das Sich-Erheben und Fallen der Sonne, septentrio vom Namen des Siebengestirns, das wir immer am nördlichen Sternenhimmel sehen. Die Begriffe der Himmelsrichtungen, die Kregel wählt, rufen also diese sehr alten astrologischen Kenntnisse auf. Sie wissen, daß die Astrologie nicht nur für die Heiligen Drei Könige, sondern bis in unsere Neuzeit hinein auch hierzulande eine große Rolle spielte. Noch im Dreißigjährigen Krieg beschäftigten die Generäle - etwa Wallenstein - Astrologen und fällten ihre politischen und strategischen Entscheidungen nur nach Abstimmung mit einem als günstig vorhergesagten Stand der Sterne. Weit von dem entfernt, was heute als Horoskop auf halbe Seiten einer Fernsehzeitschrift zusammengeschrumpft ist, war die Sternkunde eine ausgeklügelte empirische Wissenschaft, die auf Jahrtausenden der genauen Beobachtungen und daraus abgeleiteten Erkenntnissen beruhte. Es war mehr als eine Wissenschaft. Es war eine Weisheitslehre, fußend freilich auf der Grundüberzeugung, daß es "im Himmel wie auf Erden" zugehe, Mikrokosmos und Makrokosmos sich also entsprechen - ein Orientierungsmuster, das wir heute nicht mehr teilen.

Kommen wir nun zurück zum "Wechsel", denn in diesem Werk fügt Kregel seinem fortentwickelten Motiv der Tiere, Elemente und Himmelsrichtungen ein ganz neues und entscheidendes Element hinzu, das dem Werk erhebliche intellektuelle und kulturkritische Substanz verleiht: Der Druck auf die Börsennachrichten einer großen deutschen Tageszeitung (FAZ). Das ist das Wissen, aus dem sich die heutigen politischen Entscheidungen - sogar in Fragen von Krieg und Frieden - speisen. Genaue Beobachtung auch hier - dokumentiert in der schier unüberschaubaren Anzahl dicht beschriebener winziger Schrift- und Zahlenzeilen. Genaue Beobachtung, aber mit vergleichsweise geringer historischer Tiefe. Der Titel "Der Wechsel" erhält nun auch eine bestimmte Bedeutungsebene hinzu - die finanzielle nämlich (wie gesagt: Der Titel läßt sich nicht auf diese Semantik "Schuldschein" reduzieren, denn auch die unkolorierten Prägedrucke mit den Tieren und Schriftzeilen heißen bereits "Wechsel"!) Im "Wechsel" hier also diese beiden - die alte und die neue - Wissenstradition konfrontiert. Und was sagt das Werk: Es gibt der älteren Wissenstradition den Vorzug. Die Bilder der Elemente und Tiersymbole überlagern die Börsennachrichten und löschen ihre Lesbarkeit zu guten Teilen aus.

Soweit zum derzeitigen Stand dieses Tiermotivs bei Timm Kregel - ein sehr ausgereiftes Motiv, was nicht bedeutet, daß es uns nicht in Zukunft auch noch in weiteren Werken begegnen kann.

Spannend aber wird vor allem sein zu beobachten, wie sich die Unentscheidbarkeit von Naturform und Kulturform im Werk Timm Kregels entwickelt. Ich hatte erwähnt, daß manche Werke wie "Belvedere" in einigen Elementen eben genau den Umschlag des einen ins andere zu thematisieren scheinen - allerdings liegt die Deutung in diesen älteren Werken noch im Auge des Betrachters. Anders scheint mir die Lage in jüngeren Skulpturen wie "Verbunden" I-III (hier im Wandelgang). Sie weisen einen vielversprechenden Weg, finden wir hier doch, in Werken, die übrigens erstmals Metall und Holz in einer einzigen Skulptur zusammenführen, nicht mehr nur die Vieldeutigkeit einer Form - noch Natur oder schon Kultur? Die Thematik von natürlichem Vorbild und kulturellem Abbild ist hier ins Zentrum der künstlerischen Arbeit gerückt, der Umschlag von Naturform in Kulturform tritt m.E. in der Werkaussage hier klar in den Vordergrund. Also - ich freue mich an dieser Ausstellung und freue mich, Timm Kregels Arbeit weiter zu verfolgen.

Ich wünsche auch Ihnen jetzt viel Freude und viele interessante Anregungen und Denkanstöße in dieser ziemlich umfassenden Ausstellung und danke für Ihre Aufmerksamkeit!

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar