"... von Anfang an mit Inhalten versehen."

Orte. Bilder. Reflexionen: Werke Klaus Boses im Kontext der Erinnerungskultur

Betritt man heute die frisch geweißten Kellerräume des museal genutzten historischen Desinfektionsgebäudes im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald, so begegnet man dort Graphitzeichnungen aus dem 1989/90 entstandenen Buchenwald-Zyklus des Weimarer Künstlers Klaus Bose: Schwarz-weiße Blätter, auf denen die Konturen von Wehrtürmen, Gebäuden, Wegen und Zäunen des einstigen Lagers in dichten Schraffuren aus dem ansonsten unberührten Weiß der Blätter auftauchen. Zeichnungen mit starker Binnenstrukturierung und dennoch in den Umrissen der Darstellung so ausfransend, so unklar, so stückhaft und so verschwommen, als liege ein feiner Nebel zwischen dem Dargestellten und dem Betrachter. Tausende von winzigen Strichen fügen sich auf jedem Blatt zur Form zusammen, und jeder dieser kurzen Striche scheint im Ansatz mit einem kleinen Widerhaken versehen. Ganz sparsam sind die Zeichnungen hier und da mit einem Streifen Siena in rötlichem Braun koloriert. Ernst muten sie an. Todernst. Zum Teil lassen die Zeichnungen große Flächen auf den Blättern weiß - im Umkreis einzelner Betonpfeiler mit rudimentären Resten von Stacheldraht, im Blick auf das Torhaus über die heute freie Fläche des ehemaligen Lagers hinweg, in der Isolierung von Figuren auf einer nach einer Fotografie gezeichneten Darstellung französischer Gefangener, die kurz nach der Befreiung aus dem KZ heraus geführt werden und nun, zu Tode geschwächt einander stützend, in kleinen Schritten der Freiheit entgegengehen.[1] Und obwohl Klaus Boses Skizzenbücher ansonsten in der Landschaftsdarstellung eine lange Reihe von Studien zu phantastischen Wolkenformationen und Sonnenuntergängen aufweisen - der Himmel über dem Lager von Buchenwald ist immer leer.

Ergänzt werden die Blätter an den Wänden durch zwei weitere Serien, die in Vitrinen platziert sind: dem Totenwald-Zyklus, das sind skizzenhafte Tuschezeichnungen schemenhafter Figuren, 15 Jahre nach ihrer Entstehung mit Siena überarbeitet, um einzelne Gestalten in rötlich-braunen Konturen hervortreten zu lassen, sowie Schweigen ist unmöglich, einer Reihe von ebenfalls skizzenhaften, zum Teil mit Zeitungsausrissen collageartig ergänzten Bleistiftzeichnungen, unter denen ein Blatt mit fünf sich überlagernden Selbstportraits Klaus Boses besonders ins Auge fällt. Der Totenwald-Zyklus entstand in den Jahren 1989 und 2014 nach den Aufzeichnungen des Schriftstellers und Buchenwald-Häftlings Ernst Wiechert,[2] den Zyklus Schweigen ist unmöglich schuf Bose 1997 nach der Lektüre eines gleichnamigen Dialogs zwischen Jorge Semprun und Elie Wiesel aus dem Jahr 1995.[3]

Beide Serien in den Vitrinen geben in ihrer Auseinandersetzung mit den Lagerhäftlingen und den Bedingungen, unter denen sie menschunwürdig leben und menschenunwürdig sterben mußten, den Blick auf ein autobiographisches Interesse in diesen Werken Klaus Boses frei. Bose, der 1940 im kolumbianischen Bogotá geboren wurde und mit seiner Familie erst 1951 nach Weimar umzog und seither hier lebt, spürt in diesen Werkzyklen den Schicksalen seiner Eltern und damit der eigenen Geschichte nach. Die Eltern flohen aus Europa, da Boses Vater Kommunist war, die Mutter Jüdin. Klaus Bose möchte diese Angaben nicht in den Vordergrund gerückt wissen. Wichtig ist, sagt er, daß er als Weimarer in Buchenwald war. Doch mir scheint, Werke wie das Sechste Blatt der Serie Schweigen ist unmöglich mit Datum vom 15. Juli 1997: "Ich mache das / weil die Geschichte / der Familie meiner / Mutter / mir nicht bekannt ist, Bogotá. / Ich, als Kind, / im Gespräch / mit meiner Mutter / war die Heimat / Jerusalem Tel Aviv 1996 / im Bus / Die aufgehende Sonne / werde ich nie vergessen / Meine Erinnerung / Buchenwald / Hans" mit Anspielung auf Hans, einen Bruder der Mutter, Werke wie die Skizze der sich multipel überlagernden Selbstportraits oder die Abschrift des Totengebetes "El male rachamim" auf der Zeichnung des Kleinen Lagers (zuletzt überwiegend von jüdischen Häftlingen bewohnt) sind in der Wucht ihres identifikatorischen Impetus ohne das Wissen um die Herkunft Klaus Boses kaum korrekt einzuordnen. Sofort verständlich wird mit diesem Vorwissen auch, warum der Dialog zwischen dem jüdischen Häftling Elie Wiesel und dem Widerstandskämpfer und politischen Häftling Jorge Semprun Klaus Bose packen mußte und so zur Ausgangsbasis einer Reihe von Arbeiten werden konnte. Im Falle des Totenwald-Zyklus einer so konzentrierten Arbeit, daß - die Datierungen halten es fest - nicht einmal der 9. November 1989 eine nennenswerte Unterbrechung des auf eine Auseinandersetzung mit Buchenwald zielgerichteten künstlerischen Schaffens bewirken konnte.

Der Dialog Schweigen ist unmöglich behandelt das auch in Ernst Wiecherts Totenwald beschriebene Faktum der letztlich fundamental unterschiedlichen Lebensumstände von jüdischen und politischen Häftlingen: Angefangen bei der gegenüber dem Wenigen, das die politischen Häftlinge erhielten, noch halbierten Essensration über die härteren und demütigenderen Strafen bis hin zur schwersten körperlichen Arbeit war der baldige Tod dieser Menschen als einziges Ziel ihrer Lagerhaft erkennbar.

Besonders in Wiecherts - von Bose ebenfalls mit Textauszügen zitiertem - Totenwald manifestiert sich die in den verschiedenfarbigen Abzeichen markierte 'Rangabstufung' der Gefangenen als auch räumliches Geschiedensein der Häftlinge: Die Überlebenserwartung eines Menschen entschied sich bei der Frage, ob er - wie der Erzähler selber - im Holzhof an der Westseite des Lagers Baumwurzeln fürs Körbeflechten zurecht zu machen oder auszurücken und die Baumstümpfe im Wald zu roden hatte. Sie entschied sich bei der Frage, ob man - wie der Erzähler selber - den Strumpfstopfern in einem Barackenraum mit Blick auf grüne Baumwipfel zugeteilt oder den ganzen Tag lang im Steinbruch gehetzt wurde. Sie entschied sich bei der Frage der Unterbringung in gemauerten Häusern oder den eilends zusammengezimmerten zugigen Baracken, als das Lager mit der Zeit immer mehr Gefangene aufnehmen mußte. Und sowieso galt: "Sie alle wußten, daß die anständigen Menschen im Lager innerhalb des Zaunes lebten und nicht auf der anderen Seite." Bis hin zum wehmütigen Gedanken, daß der Erzähler hier, im ihm vertrauten Weimar "soviel an Erhebung, an Glück, an stiller Hingabe erfahren" und das Lager stehe, wo einst Goethe mit Charlotte von Stein über das Land geblickt habe, werden Orte in Der Totenwald als jedenfalls bedeutungstragend kenntlich gemacht und als Speicher von Erinnerungen konstituiert.[4]

Die Orte selber tragen Gedächtnis. In Wiecherts Der Totenwald findet Klaus Bose bestätigt, was er schon zu Beginn des Jahres 1989 gewußt oder gespürt haben muß, als er die ersten Skizzen zu seinem 35teiligen Buchenwald-Zyklus schuf: Kaum Menschen, sondern Türme, bröckelnde Gebäude, geborstene Zäune, überwuchernde Schienen, die Reste des ehemaligen Lagergeländes. Zeigen die Bleistiftskizzen der Vorraum-Vitrinen gelegentlich noch das realistische Abbild eines Gebäudekomplexes mit jungen Bäumen und einem natürlichen Wildwuchs an Strauchwerk (vgl. Blatt 4), so reduziert die fertige Zeichnung, die passend an der dahinterliegenden Wand gehängt wurde, den Ort auf die nackten, leblosen Gebäude unter einem toten Himmel.

So illustrieren diese einer unmittelbaren künstlerischen Intuition entsprungenen Zeichnungen die theoretischen Reflexionen etwa von Professor Volkhard Knigge, dem Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. In seinem Beitrag "Europäische Erinnerungskultur" unterscheidet Knigge Gedenkstätten insofern von Museen, als in Museen ein Rahmen für Erinnerung geschaffen wird, ohne daß damit zugleich konkrete Inhalte vorgegeben würden. Bei historischen Orten sei eine solche Trennung nicht möglich: "Hier läßt sich nur bedingt zwischen Rahmen und Inhalt unterscheiden. [... Gedenkstätten] sind vielmehr durch ihre jeweilige historische Referenz von Anfang an mit Inhalten versehen."[5] Indem Klaus Bose die Gebäude und andere Spuren des ehemaligen KZ Buchenwald festhält, soweit sie überhaupt noch greifbar sind (übrigens auf französischem Papier festhält, da er für diese Arbeit kein deutsches Papier nutzen wollte), schafft er Bildräume, die für die nachgeborenen Betrachter "kollektive Bedingungen der je eigenen Erinnerungen" darstellen.[6] Klaus Boses Abbildungen des Ortes Buchenwald stellen somit eine der Bedingungen der Möglichkeit dar, in der empathischen Kenntnisnahme des Geschehenen die prinzipiell nicht übertragbaren Erfahrungen einer Lagerhaft individuell doch nachzuerleben und dieses dann zu erinnern. In der Auf-Hebung des Geschehens in die höhere Wahrheit der Kunst wird intersubjektiv nachvollziehbar, was als gerne sogenannte "kollektive Erinnerung" eben doch unmöglich und vor allem nicht sinnvoll oktroyierbar ist.

Notwendige Ergänzung der Bild-Räume sind selbstverständlich die Darstellungen individueller Schicksale, wie wir sie in Boses Buchenwald-Zyklus im Blick auf die einzelnen gerade befreiten Franzosen finden, aber auch in den Serien zu Der Totenwald und Schweigen ist unmöglich. In der ständigen Sammlung der Gedenkstätte Buchenwald kommen die Zeugnisse der Zeitgenossen hinzu, die in Fotografien von Gefangenen oder in Zeichnungen ihrer durch Hunger, Mißhandlungen, Erfrierungen und Tod entstellten Leidensgenossen zeigen, wo Haft und unmenschliche Lebensbedingungen die sichtbarsten Spuren hinterlassen haben: an den Menschen selber.

Klaus Boses Buchenwald-Zyklus umfaßt insgesamt 35 Blätter. 26 davon konnten gehängt werden. Von den verbleibenden neun Blättern zeigen vier ebenfalls Gebäude. Fünf Blätter des Zyklus sind weiß. Und diese fünf Blätter sind vielleicht die aussagekräftigsten des gesamten Werkes, symbolisieren sie doch eben genau die Tatsache, daß nie alles erinnert, nie alles erzählt, nie alles wiedergegeben und nachempfunden werden kann: "Wie viele Geschichten sind nie erzählt worden, weil es keine Überlebenden gab!" - "Wie viele Geschichten werden auch heute noch nicht erzählt, weil die Überlebenden nicht darüber sprechen wollen", heißt es bei Jorge Semprun und Elie Wiesel[7] und Klaus Bose hat diese Sätze auf dem Fünfundzwanzigsten Blatt der Serie Schweigen ist unmöglich zitiert.

In Teil II der Doppelausstellung ORTE. BILDER. REFLEXIONEN zeigt die Weimarer Kunsthalle Harry Graf Kessler Stadt- und Landschaftsansichten Klaus Boses. Hier finden sich die Prinzipien seiner Spurensuche in der Gedenkstätte auf eine gewissermaßen intimere Ebene persönlicher Eindrücke heruntergebrochen. In derselben dichten Schraffur, die mit vielen kleinen Strichen eine Kontur aus der weißen Fläche hebt, treffen wir hier auf Stadthäuser, für die ein wolkenbetupfter Himmel nur als Spiegelung im Fenster existiert. Straßenzüge des Weimarer Stadtgebietes sind eingefangen, die das Haus eines befreundeten Dichters zeigen oder den Künstler an Alltagssituationen erinnern: Gelegenheitsskizzen zum Teil, zu größeren Zeichnungen ausgearbeitet.

Programmatischer wiederum die Dorf- und Naturansichten, wenn wir etwa - stilistisch mit durchaus kubistischen Anleihen - einen kleinen Bahnhof abgebildet finden, hinter dessen gewachsen-verwinkelten Gebäuden ein InterCityExpress vorüberrauscht. In diesem Werk arbeitet Klaus Bose zeichnerisch eine Momentaufnahme aus, deren Bildaussage weit über das unmittelbar Dargestellte hinausgeht. Im Festhalten von Dörfern, die längst keine wirklichen Lebensräume mehr sind, formuliert sich eine Zeitkritik, die kein untypischer Motor heutiger Erinnerungskultur ist. Zitieren wir noch einmal Volkhard Knigge: "Ein weiterer Grund für die enorme Bedeutung, die der Erinnerungskultur zugemessen wird, liegt im hochgradig beschleunigten Wandlungsprozeß moderner Gesellschaften und den damit verbundenen Erfahrungen des Verschleißes überkommener Lebenswelten, lebensweltlicher Gewißheiten und Kompetenzen".[8]

So wenig, wie Dörfer noch Lebensräume sind, so wenig ist Natur noch Natur: Seine Beobachtung, daß die gesamte Landschaft hierzulande in Nutzflächen aufgeteilt ist, arbeitet Klaus Bose in der Darstellung kleiner verwilderter Haine oder letzter unasphaltierter Feldwege auf. Seiner dichten Zeichentechnik gelingt es dabei, Bildmotiven mit den sparsamsten Mitteln - wir reden nach wie vor von schwarz-weißen Kreide- oder Graphitzeichnungen - große perspektivische Tiefe zu verleihen. Die verschwimmenden Umrisse, die Boses Stadt- und Landschaftszeichnungen stilistisch mit seinem Buchenwald-Zyklus verbinden, versinnbildlichen hier das Bedauern einer ständigen Veränderung, der der dokumentarische Charakter der Arbeiten Klaus Boses in den Arm zu fallen sucht.

Dr. Cornelie Becker-Lamers


[1] Ausgangspunkt der Zeichnung ist eine Fotografie des französischen Pressefotografen Eric Schwab vom 18. April 1945. Klaus Bose zeichnete sie auf der Grundlage eines früheren Forschungsstandes, der bei der Interpretation der Abbildung nicht von der Freilassung, sondern vom Moment der Internierung der Verwundeten ausging. Für die Hintergrundinformationen danke ich Frau Dr. Sonja Staar, Gedenkstätte Buchenwald.

[2] Ernst Wiechert, Der Totenwald. Ein Bericht, Frankfurt a.M.: suhrkamp 2008.

[3] Jorge Semprun - Elie Wiesel, Schweigen ist unmöglich, Frankfurt a.M.: suhrkamp 1997.

[4] Zu den Zitaten und Paraphrasierungen dieses Absatzes vgl. Wiechert, Totenwald (wie Anm. 2) S. 96; S. 104; S. 119; S. 65. Die in der Ausstellung präsentierten Textauszüge, die Klaus Bose mit den Seitenangaben S. 58 bzw. S. 78 nachgewiesen hat, sind in der hier zitierten suhrkamp-Ausgabe auf den Seiten 75 bzw. 101 zu finden.

[5] Volkhard Knigge, Europäische Erinnerungskultur. Identitätspolitik oder kritisch-kommunikative historische Selbstvergewisserung, in: kultur. macht. europa. europa. macht. kultur. Begründungen und Perspektiven euro­päischer Kulturpolitik. Dokumentation des Vierten Kulturpolitischen Bundeskongresses am 7./ 8. Juni 2008 in Berlin, hg. von der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. Bonn, Essen: Klartext Verlag 2007, S. 150-161, S. 159.

[6] Vgl. ebd. S. 154; Knigge zitiert hier aus Reinhart Koselleck, Der 8. Mai zwischen Erinnerung und Geschichte, in: Rudolf von Thadden - Steffen Kaudelka (Hg) Erinnerung und Geschichte. 60 Jahre nach dem 8. Mai 1945, Göttingen: Wallstein S. 13-22.

[7] Semprun - Wiesel (wie Anm. 2) S. 41.

[8] Knigge, Europäische Erinnerungskultur (wie Anm. 5) S. 151.

Der Text erschien zuerst im Druck als: Cornelie Becker-Lamers, "... von Anfang an mit Inhalten versehen." Orte. Bilder. Reflexionen: Werke Klaus Boses im Kontext der Erinnerungskultur, in: Klaus Bose. Zeichnungen. Orte. Bilder. Reflexionen. Eine Doppelausstellung in Weimar 14. März bis 10. Mai 2015. Teil I Gedenkstätte Buchenwald. Kunstausstellung im Gebäude der ehemaligen Desinfektion. Teil II Kunsthalle Harry Graf Kessler. Ausstellungsbegleitband hg. von der Stadtkulturdirektion Weimar und Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Weimar 2015, S. 6-12.