ja und nein – das Paradox des Anfangens

Rede zur Ausstellungseröffnung

„angelika uliczka. zeichnungen und objekte“

Kunsthaus Erfurt, 17. Januar 1997

Sehr geehrte Damen und Herren,

das Streichquartett, so sagt man in der Musik, sei der Prüfstein der Komponierenden: Mit sparsamen künstlerischen Mitteln muß ein immer transparentes und innerkünstlerisch logisches Werk geschaffen werden, dem keine Vielfalt von Orchester-Klangfarben die Mängel kompositorischer Unsicherheiten oder Einfallslosigkeiten zu überdecken hilft.

Die Zeichnung, so könnte man sagen, ist das Streichquartett der Bildenden Kunst. Die Form tritt in den Vordergrund gegenüber einer pittoresken Farbigkeit, anders als in der Malerei sind Korrekturen im Bild nicht möglich, Konzentration und ein klares Konzept sind die Voraussetzungen, um der strengen Disziplin der zeichnerischen Arbeit gewachsen zu sein.

Gerade die Tatsache aber, daß Zeichnungen nicht nachkorrigierbar sind, daß nicht in vielen Übermalungen, sondern in vielen Einzelblättern ein künstlerischer Gedanke sich formieren muß, macht für Angelika Uliczka die Kunstform der Zeichnung interessant. Gerade die Tatsache, daß die Zeichnung unmittelbar und in Minuten einen bildkünstlerischen Ausdruck formuliert, Empfindungen sofort oder nie mehr, mit dem ersten Federstrich oder erst auf dem nächsten Blatt adäquat ins Bild umsetzt, läßt in der Zeichnung nah an der ursprünglichen Idee arbeiten. „Die Zeichnung ist nah am Gefühl, nah am Gedanken“, so formuliert es Angelika Uliczka.

Angelika Uliczka wurde 1961 in München geboren. Sie lebt und arbeitet heute in Offenbach bei Frankfurt, wo sie an der Hochschule für Gestaltung in den 80er Jahren ihr Studium absolvierte und von 1990-92 als Assistentin bei Prof. Lincke im Fach Zeichnen unterrichtete. Mitte der 80er Jahre studierte sie zwei Semester am College of Art in Edinburgh in Schottland. Stipendien der Johannes-Mosbach-Stiftung Offenbach und der Peter-Fuld-Stiftung Frankfurt/Main schlossen sich dem Studium an. 1991 erhielt sie den Internationalen Senefelderpreis für Lithographie und 1993 den Kunstpreis der Stadt Obernburg am Main. Arbeitsstipendien führten sie ins Förderatelier der Frankfurter Sparkasse, ins Atelierhaus Worpswede und zuletzt – 1995 – ins Künstlerhaus Schloß Wiepersdorf. Ausstellungen zeigten Uliczkas Arbeiten bisher unter anderem in Offenbach, Frankfurt/Main, Mainz, Bremen und Leipzig.

Das Auffallendste an den Zeichnungen Angelika Uliczkas ist sicherlich die Unabgeschlossenheit der dargestellten Formen. Jedes Bild wirkt wie ein Bildausschnitt, die dargestellten Formen sind seitlich, oben oder unten angeschnitten und suggerieren eine Fortsetzung der Darstellung jenseits des Blattrandes. Ganz bewußt spielen häufig undeutliche Formen mit einer Bedeutung: In unwillkürlichen, unfreiwillig-freien Assoziationen sieht der Betrachtende auf dem Hintergrund der Bilder im eigenen Kopf Formen, Körperformen oder Landschaften in die Zeichnungen Angelika Uliczkas hinein. Aus größerer Entfernung betrachtet, erinnern gerade die Serien kleinerer Zeichnungen an die mit Bedeutung aufgeladene, aber bis zur Unlesbarkeit reduzierte Bildersprache fremder Hieroglyphen: voller Assoziativkraft, aber nicht endgültig deutbar. In der Kommunikation der Linien und Flächen in den Bildern und zwischen den Bildern einer solchen Serie vernetzen sich die einzelnen Zeichnungen und Zeichen scheinbar zu einer vieldeutigen und nie zuende interpretierbaren Textur.

Unsicherheit und Uneindeutigkeit bei der Betrachtung ihrer Zeichnungen hervorzurufen, ist Programm der künstlerischen Arbeit Angelika Uliczkas. Nicht umsonst tragen die Arbeiten in der Regel keine Titel. Die fragmentierte zeichnerische Darstellung soll ganz bewußt das Dargestellte einer eindeutigen Festlegung des „entweder ja oder nein“ entziehen. Eine Form ist scheinbar dargestellt, aber sie ist nur angeschnitten, angedeutet, nicht vollständig ausgeführt, sie ist, wenn man ehrlich ist, immer eben gerade nicht dargestellt, sondern wird als vollständige Form nur suggeriert. Jedes Bild reicht scheinbar über seinen Bildrand hinaus, aber jede Deutung und Bedeutungsaufladung liest man als Betrachterin lediglich in das Bild hinein, indem man in die Darstellung hineinprojiziert, was der Blattrand bereits abschneidet.

Es ist, als thematisierten die Arbeiten Uliczkas alle den Prozeß des Anfangens selbst, den ‚Anfang’ schlechthin. Sobald man nämlich beginnt, die angeschnittenen Formen über den Blattrand hinaus in Gedanken weiterzuzeichnen, verfängt man sich in der paradoxalen Struktur, die für das Anfangen schlechthin charakteristisch ist: In ihrem Anfang ist eine Sache vollständig anwesend und vollständig abwesend zugleich: Um von einem Anfang reden zu können, muß eine Sache bereits als ganze antizipiert worden sein, sie muß bereits als ganze präsent sein, damit von ihr gesagt werden kann, sie fange an, und so fange sie an. Anfang heißt aber auch, daß dieselbe Sache noch nicht entwickelt, ausgereift, abgeschlossen und zuende gebracht ist, sie ist also gleichzeitig nicht da, nicht greifbar, ist gleichzeitig abwesend. ‚Anzufangen’ ist immer spannungsvoll, weil der Anfang eine Sache der binären Ordnung des „ja oder nein“, des „null oder eins“ entzieht, in die wir unsere Welt für einen einfachen und geregelten Alltag für gewöhnlich einzuteilen und zu sortieren pflegen. ‚Anfang’ heißt immer „ja und nein“: eine Sache ist da und zugleich nicht da.

Dieses Paradoxon spiegelt m.E. genau die Struktur der Zeichnungen Angelika Uliczkas. Eine bekannte, fertige Form wird suggeriert, sie ist dargestellt und, durch die Unvollständigkeit und Mehrdeutigkeit der Zeichnung, eben gerade nicht dargestellt: Die Form ist anwesend und abwesend zugleich. Man wird nie wissen, wie eine auf einer Zeichnung angeschnittene Form als ganze auszusehen hätte, man sieht nur, daß so, wie das Bild ist, es zum Weiterdenken anregt und nahelegt, es in Gedanken weiterzumalen.

Die Bilder Uliczkas können auf gewisse ungeduldige Charaktere deshalb eine Art erzieherischer Wirkung ausüben: Indem immer offen bleiben wird, wie eine Darstellung weitergedacht werden könnte und wovon sie ein Anfang ist, indem hier schelmisch mit Erwartungen gespielt wird und fertige Muster aufgerufen, aber nicht eingelöst werden, wird man in der Betrachtung von Uliczkas Arbeiten ein wenig Geduld erwerben können, Dinge unabgeschlossen und uneindeutig bleiben zu lassen. Man wird Geduld erwerben können, bei den vielen möglichen Anfangen, die jedem von uns täglich begegnen, ruhig zu bleiben und zu sehen, was wirklich ein neuer Anfang sein kann, wann man handeln sollte und wann man einfach nur abwarten muß.

Vielen Dank!

Cornelie Becker