Neue . Skulptur . Weimar . 2016 . Biennale Weimar - Holzdorf . Anna Franziska Schwarzbach . Andreas Theurer . Juli - September

Rede zur Ausstellungseröffnung

Landgut Holzdorf, 3. Juli 2016, 13.30 Uhr

Liebe Anna Franziska Schwarzbach, lieber Andreas Theurer, liebe Elke Gatz-Hengst, sehr geehrte Damen und Herren,

bereits gestern abend haben wir uns in der Galerie Profil mit den Biographien und einigen Werken der Künstler der diesjährigen Skulptur . Weimar vertraut gemacht. Wir sahen Zeichnungen und Kleinplastiken von Anna Franziska Schwarzbach, Konkrete Kunst und kleinere Wandrefliefs von Andreas Theurer. Die starken Frauengestalten, deren Darstellung Andreas Theurer wie Anna Franziska Schwarzbach gleichermaßen am Herzen liegt, können wir heute, mit den Skulpturen im Außenraum, besser kennen lernen.

Ich möchte mit der "Europa" von Andreas Theurer beginnen, die in der Innenstadt am Beginn der Schillerstraße aufgestellt ist. Die marmorne Skulptur stammt aus dem Jahr 1992 und ist nicht größer als ein Mensch, 1,65m hoch. Mit dem Werktitel ruft Andreas Theurer eine Reihe von Vorkenntnissen und Assoziationen beim Betrachter ab, das geht gar nicht anders und damit muß und wird jeder Künstler rechnen. Diese Vorkenntnisse bilden in uns zunächst unwillkürlich einen Erwartungshorizont, mit dem wir an das Werk herangehen, ein Vorverständnis, vor dessen Hintergrund wir das Werk betrachten und das sich u.U. durch die Denkanstöße, die das Werk gibt, verändert. Die Assoziationen beim Namen "Europa" betreffen in der derzeitigen politischen Situation vielleicht zuallererst die Wertegemeinschaft aus bisher noch den meisten europäischen Ländern: "Europa" bedeutet derzeit "EU". Dann wird man sich besinnen, daß "Europa" ja zunächst ein geographischer Begriff ist, der unseren ganzen Kontinent bis zum Ural einbezieht. Vor einem Kunstwerk wird man als drittes vielleicht Anspielungen auf die Namensgeberin unseres Kontinentes suchen, auf die phönizische Königstochter Europa, die Zeus begehrte und deshalb kurzerhand in Gestalt eines Stieres ins Meer hinein entführt haben soll. Mit diesem Vorverständnis betrachten wir die Skulptur Andreas Theurers - und was sehen wir? Jedenfalls keine mythische Schönheit auf zierlichen Beinen, die einen Stier bestiegen haben könnte. Aber auch keine charismatische Person mit Sendungsbewußtsein, die mit ausgebreiteten Armen ihren Wertekosmos in die Welt tragen möchte. Wir sehen keine strahlende Herrscherin, deren zivilisatorische Vorstellungen seit Jahrhunderten andere Kulturen beeinflußt. Wir sehen nicht einmal eine Figur, die zuversichtlich geradeaus in die Zukunft blickte. Sondern wir sehen eine Gestalt auf massivem Fundament, der Körper weit nach vorne ausladend und im Dreieck zugespitzt wie ein Schiffsbug: Eine Anspielung an die Entführung der mythischen Europa ins Meer - an die Verführung des historischen Europas durch das Meer - denn daß Christoph Columbus, finanziert durch das kastilische Königspaar, auf dem Weg nach Indien in See stach, terminiert für uns nicht nur den Beginn der Neuzeit, sondern legte auch den Grund für die Vorherrschaft der europäischen Zivilisation in der Welt - mag man diese Vorherrschaft nun als segensreich oder als verhängnisvoll bewerten. Die "Europa" Andreas Theurers scheint den eigenen Leistungen mittlerweile eher skeptisch gegenüber zu stehen. Ihren Kopf hat sie zwischen die Schultern gezogen, die Arme angewinkelt, den Oberkörper verdeckt. Sie schaut nicht geradeaus, sondern zur Seite - als ängstige sie sich oder als suche sie nach neuen Anregungen und neuen Wegen, als suche sie nach Menschen, die sich ihrer Sache sicherer sind als sie es sich selber zu sein scheint.

Betrachten wir nun die gleich beim Eintritt in den Holzdorfer Park sichtbare "Cassandra" - ein weiteres Werk von Andreas Theurer, das mit dem Namen einer mythologischen Figur einen Erwartungshorizont beim Betrachter abruft. "Cassandra" war zunächst aus Holz gearbeitet und ist hier für die Plazierung im Außenraum in Bronze gegossen worden. Die schwarzen Linien auf der mit Acrylfarbe geweißten Figur zeichnen ursprüngliche Maserungen des Holzes nach.

Die mythologische Cassandra ist eine Seherin und Prophetin und ist als solche in der Literatur und Bildenden Kunst bis heute präsent. Da Andreas Theurer uns in seiner Figur aber eine Seherin mit verschlossenen Augen und eine Prophetin ohne Mund vorstellt, muß ein anderer Aspekt ihrer Geschichte im Vordergrund stehen. Wer also ist Cassandra genau? Als Tochter des trojanischen Königspaares Priamos und Hekabe ist sie die Schwester des Paris, der durch den Raub der Helena den Trojanischen Krieg auslöst. Weil Schlangen ihr bei einem nächtlichen Besuch im Tempel die Ohren ausgeleckt haben, besitzt sie die Gabe der Prophetie und wird als junges Mädchen vom Gott Apollon höchstpersönlich noch weiter in der Kunst des Wahrsagens ausgebildet. Da Cassandra aber die vereinbarte Gegenleistung verweigert, nämlich Apoll zu Willen zu sein, bestraft er sie: Er spuckt ihr in den Mund und bewirkt dadurch, daß kein Mensch ihren Prophezeiungen Glauben schenkt. So sagt sie vergeblich den Untergang Trojas voraus. Als das Trojanische Pferd als scheinbares Geschenk der Hellenen in die Stadt geschoben wird, warnt sie vor der Kriegslist und will das Pferd anzünden. Man entreißt ihr die Fackel und erklärt sie für verrückt. Noch in derselben Nacht brennt ganz Troja.

Diese Cassandra zeigt uns Andreas Theurer. In ihrer knabenhaft schlanken, hochaufgereckten Gestalt wird das Mädchen erkennbar, das sich der Liebe der Männer verweigert. Geschlossenen Auges und ohne Mund zeigt der Künstler uns eine Cassandra, die resigniert begonnen hat, ihre Wahrheiten für sich zu behalten. Die Arme sind nicht zum Hinweis auf nahendes Unheil ausgestreckt, sondern über dem Kopf verschränkt. Die Cassandra Theurers zeigt niemandem mehr irgendwas. Die Geste der erhobenen Arme und Hände verweist vielmehr auf ein Sich-Ergeben, auf ein Gefühl des Ausgeliefertseins derer, die das Unheil kommen sieht, die es aber alleine nicht zu verhindern vermag. Der Knick in der Figur - vielleicht zunächst durch den Wuchs des Baumstammes vorgegeben, aber künstlerisch für die Gestalt genutzt, scheint uns eine sitzende Gestalt zu zeigen. Diese Cassandra ist nicht mehr bereit, für irgendeine Nachricht aufzuspringen. Andreas Theurer hat die Geschichte zu Ende gedacht: Aus der eloquenten Prophetin ist eine resignierte und verschlossene Gestalt geworden, deren Sorge nurmehr den eigenen Körper verzehrt.

Wenden wir uns den Exponaten Anna Franziska Schwarzbachs zu. Prominent plaziert ist die "Unbekannt Prominente", Frau Oberhofmarschallin Benedikta Margaretha Freifrau von Löwendal, geb. von Rantzau. Sie wurde 1683 geboren und entstammte dänischem Adel. 1709 - also für damalige Verhältnisse spät, mit Mitte 20, heiratete sie den fast 50jährigen sächsischen Oberberghauptmann Woldemar Freiherr von Löwendal, den sie, als sie 1776 starb, um 36 Jahre überlebt hatte. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor, die sämtlich noch als Kinder verstarben. Aber - die Oberhofmarschallin war eine starke, visionäre Frau. Sie verlegte ihren Wohnsitz von Dresden ins heutige Lauchhammer an der Schwarzen Elster und als in der Gegend ein besonders reichhaltiges Eisenerzvorkommen entdeckt wurde, gründete sie ein Eisenwerk und nahm mit dem persönlichen Einverständnis Augusts des Starken 1725 den ersten Hochofen in Betrieb. Die dadurch angestoßene Industrialisierung der Region nutzte sie für soziales Engagement, ließ Schulen und Armenhäuser errichten und beförderte durch Spenden das Wirken der Kirche.

Was verbindet Anna Franziska Schwarzbach mit der barocken Oberhofmarschallin? Nun - den Anstoß zur Beschäftigung mit dieser Persönlichkeit gab tatsächlich eine Fördermaßnahme zur Erinnerung an historische Frauengestalten Brandenburgs. Schwarzbach stieß auf die Freifrau und schuf 2010 eine Gipsbüste für den Eisenguß. Ganz bewußt stellt sie uns keine ganz junge Frau vor, sondern die aufrechte und mit zurückgezogenem Kinn selbstbewußte Unternehmerin, die mit strategischem Geschick den ihr anvertrauten Landstrich wirtschaftlich entwickelt. Die Gesichtszüge verraten erlittenes Leid, das die Person verändert, aber nicht gebrochen hat. Die Kinnpartie verweist auf Durchsetzungsvermögen, der Blick der Figur auf einen klaren Verstand. Wie immer in den Plastiken Franziska Schwarzbachs ist das Gesicht der Figur klassisch und realistisch ausformuliert - das Portrait einer adligen Dame, die, wenn sie je romantisch veranlagt gewesen sein sollte, die Schwärmereien lange hinter sich gelassen hat. Haartracht und Kleidung helfen der Haltung noch einmal auf. Zur Gestaltung der Haare nutzt die Künstlerin den Gips, um die Lockenpracht der barocken Perücke wiederzugeben. Unterhalb der Büste läuft die Figur in einem nurmehr angedeuteten standesgemäßen Kleid aus, dessen Hermelinkragen zu ahnen ist.

Als Büsten begegnen uns in der Innenstadt auch die Bauhaus-Meisterin Marianne Brandt und der Cellist Mstislav Rostropovich in Eisenguß bzw. Bronze nach Gipsentwürfen. Im Prinzip wie bei der Freifrau, vielleicht etwas robuster im Detail, sind beide Büsten im Gesicht sorgfältig gearbeitet, Hinterkopf und Hals dann mit dem Eindruck des frischen, ersten Wurfes belassen. Es ist natürlich nicht der erste Wurf, es ist ein bewußter künstlerischer Ausdruck, der nach vielen Versuchen in einer Figur dann so gelingt, wie die Künstlerin ihn haben möchte und beläßt. Auch Marianne Brandt wird uns - wie die Freifrau - nicht als hübsche junge Bauhausstudentin gezeigt, sondern als eher schnodderige Alte, als die Franziska Schwarzbach sie selbst als Kind kennengelernt hat. Denn Marianne Brandt hat den Bildhauer Hans Brockhage als Studenten unterrichtet - und Hans Brockhage ist Franziska Schwarzbachs Vater. Und da Marianna Brandt zu ihrem begabten Schüler bis an ihr Lebensende den Kontakt aufrechterhielt, hat Franziska Schwarzbach die Meisterin noch selber zuhause erlebt.

Die Büste Rostropovichs ist eine Auftragsarbeit der Akademie Krohnberg im Taunus, die Rostropovich ins Leben gerufen hat und wo er gemeinsam mit Kollegen Meisterkurse gab. Als Rostropovich im April 2007 einen Monat nach seinem 80. Geburtstag starb, stand der Meisterkurs im Zeichen der Trauer, innerhalb von 40 Tagen sollte zum Gedenken eine Büste geschaffen werden. Anna Franziska Schwarzbach meisterte die Aufgabe, indem sie Tag und Nacht arbeitete und schuf das Konterfei eines verschmitzt und seelenruhig in sich hineinlächelnden Musikers mit der asymmetrischen, in charakteristischer Weise vorgeschobenen Unterlippe.

Ihrem Hang zu Ironie und Humor läßt Franziska Schwarzbach in dem Doppeldenkmal "Schiethe und Goller" freien Lauf. Das verkehrte Pendant zu Weimars "Goethe und Schiller"-Denkmal ist in genauer Kenntnis der Entwürfe Rietschels und des Streites um die Gestaltung des Denkmals und dennoch als recht spontaner Wettbewerbsentwurf entstanden. Die beiden kleinen Figuren stehen auf dem Theaterplatz, dem großen Vorbild schräg gegenüber.

Hier in Holzdorf möchte ich abschließend noch kurz auf das Taufbecken hinweisen. Es wird von Säuglings- und Kleinkindgestalten gesäumt. Ein sehr schöner Gedanke ist, daß bei der Aufstellung im Außenraum sich Regenwasser im Becken sammeln kann. Am Grunde des eigentlichen Taufbeckens könnte man die Szene der Taufe Jesu durch Johannes den Täufer im Jordan vermuten. Was wir sehen, sieht aus wie Christophorus, der den Knaben über das Wasser trägt, bis der Junge immer schwerer und schwerer wird und der Riese seinen Weg kaum vollenden kann. Zum Schluß der Legende erfährt Christophorus bekanntlich, warum ihm das Kind zu schwer geworden ist: In Christus hat er die ganze Welt getragen. Obwohl auch diese Geschichte gut in ein Taufbecken passen würde, ist sie doch nicht dargestellt. Lustigerweise - und als letztes verbindendes Element zwischen unseren beiden Künstlern - war die Inspirationsquelle eine Fotografie Alfred Hrdlickas, des Lehrers Andreas Theurers. Hrdlicka hält ein Kind im Arm - und dieses Sinnbild des Schutzes und behüteten Lebensweges war es, das Franziska Schwarzbach in der Gestaltung des Taufbeckens nachgeformt hat.

Der allzeit behütete Lebensweg - ein schönes Schlußwort. Ich möchte damit enden und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar