„stip.visite. Helmi Kynast. Friederike Lorenz. Peggy Schneider. Karien Vervoort. Kunststipendiaten 2009 des Freistaats Thüringen stellen aus“

Rede zur Ausstellungseröffnung

Thüringer Landtag, Erfurt, 28. Januar 2010

Frau Präsidentin, Herr Minister, Dr. Völter, meine Damen und Herren,

Gegenstände ihrem alltäglichen Gebrauch zu entheben und einer ästhetischen Betrachtungsweise zu unterziehen, ist Grundlage der musealen Sammlung wie der kunsthistorischen Arbeit. Seit knapp 100 Jahren haben Künstler sich diese Dekontextualisierung als künstlerische Strategie des „ready made“ zu eigen gemacht. (Duchamps Ausstellung eines im Warenhaus erworbenen Flaschentrockners datiert von 1914). Sie ist aus Konzeptkunst und Installationen bis heute nicht wegzudenken und spielt im Werk aller vier heute vorgestellten Stipendiatinnen eine zentrale Rolle.

Peggy Schneider, um mit ihr zu beginnen, stöberte Tapeten aus DDR-Zeiten auf, im Archiv der Tapetenfabriken wie in alten verlassenen Häusern. Das Interesse am Wandel von Geschmack und Zeitgeist brachte die Musterbücher hervor, (die Fabrikationsjahr und –ort jedes Tapetenstückes genau verzeichnen). Die Herkunft der Tapete aus dem ledernen oder stofflichen Wandbehang ruft die Tapetenbahn ins Gedächtnis, die Peggy Schneider in Zwickau stricken ließ. In den aus Tapetenbahnen geschneiderten Kleidungsstücken sehe ich eine Anspielung auf Friedensreich Hundertwassers Konzept der „fünf Häute des Menschen“, in denen Hundertwasser das Haus als unsere dritte Haut bezeichnet. Was uns täglich umgibt wie Haut und Kleidung, wird zu einem Teil unserer Selbst und wirkt mit an der Herausbildung unserer Identität.

Ich möchte am Werk Peggy Schneiders den Aspekt herausstreichen, der sich aus ihrer fotografischen Dokumentation verfallener Häuser ergibt. Die Künstlerin hatte über Zeitungsartikel und –anzeigen um die Mithilfe beim Auffinden alter Tapetenbestände gebeten. Die Resonanz der Leserschaft zeigte schnell, daß aus einer spielerisch begonnenen, auch autobiographisch motivierten Spurensuche ein künstlerisches Projekt erwuchs, dessen gesellschaftliche Relevanz nicht mehr zu übersehen war. Woher diese große Bedeutung? Nun – was uns täglich umgibt, wird zu einem Teil unserer Selbst. Die materiellen Zeugnisse des DDR-Alltags stellen für viele Menschen in unserem Land einen wichtigen Anhaltspunkt dar, wenn es gilt, die empfundene Realität der untergegangenen Heimat zu bestimmen (– denken Sie auch an die vielbesuchten Ost-Pro-Messen, an die DDR-Museen, an die Vereine der zahllosen Trabi-Verehrer etc.) Indem Peggy Schneider verrottende Wohnungswände künstlerisch aufarbeitet, rückt sie das Ausgesonderte ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit. Was bei Verfall, Abriß oder Renovierung gleichermaßen zerstört werden wird, macht die Arbeit von Peggy Schneider erinnerbar und bewahrt es erst vor dem Nicht-Gewesen-Sein. Das Randständige und Verlassene, das unwiderruflich der Vergessenheit anheim gegeben schien, erhält seinen Platz im Kulturellen Gedächtnis. Dieses wiederum aber bestimmt die Entscheidungen einer Gemeinschaft mit, und darum gestaltet die Zukunft, wer Vergangenes erinnerbar hält. Immer war es Herrschaftsprivileg, das Erinnerungswürdige zu bestimmen und vom Zerfließenden zu unterscheiden. In totalitären Systemen wird denn auch die Behauptung eigener Erinnerungen gegen die offizielle Vereinbarung über die Gestalt vergangener Realitäten in der Regel als subversiv erkannt und hart bestraft. In Demokratien aber trägt die Formulierung (noch) nicht offizieller Erinnerung zum gesellschaftlichen Diskurs bei, in dem, auf der Suche nach der Wahrheit, die Wirklichkeit – und hier gerade auch die psychische Realität – des Vergangenen beständig neu ausgehandelt werden muß. So sind die Funde beschrifteter und damit individualisierter Tapetenstücke besonders wichtig, wie oben (OG) zu sehen die Kinderzeichnung, der Schriftzug „Sibylle“ oder hier das „Eto moja komnata“ eines vor 30 Jahren als Soldat in Nohra stationierten russischen Touristen. Denn die Abbildung möglicher Erinnerungs-Orte ruft in uns Betrachtern eigene Orte wach, die ein Teil von uns geworden sind und als Teil von uns irgendwo in der Welt zurückbleiben.

Womit wir im Werk von Friederike Lorenz angekommen wären. In ihren wie zufällig zusammengesetzten Bildflächen aus häufig wiederum zusammengesetzten Bildern umkreist es die Frage von Entfremdung des Eigenen und Vertraut-Werden des Fremden und die eng daran geknüpfte Erfahrung einer Gratwanderung zwischen wie auch immer gesellschaftlicher Bindung und individueller Freiheit. „If changes occur“ zeigt eine kleine Zeichnung einer Frau mit zwei Köpfen. Diese schlichte, unscheinbare Zeichnung scheint mir den Kern dessen einzufangen, was alle anderen Zeichnungen und Materialcollagen mit Beispielen untersetzen: Die Zerrissenheit des Individuums in seiner Suche nach Geborgenheit und gesellschaftlicher Verortung einerseits und seiner Flucht vor den Fesseln einer zu engen Bindung andererseits, der Zweispalt, wie man auch formulieren kann, zwischen dem Drang nach Freiheit und der Angst vor Verlorenheit. Indem der Ausdruck „gebunden sein“ wörtlich genommen wird, machen etliche der in einfachem Steppstich gefertigten Bildzusätze sinnfällig, wovor sich so viele Menschen fürchten: In „Protections III“ im 1. OG finden Sie eine von einem übergroßen Blumenstrauß verdeckte Figur, die, von einer Fessel ihrer Beine ausgehend, von vier parallelen Fadenreihen eingesponnen und zuletzt in einen viereckigen Rahmen gebracht ist. Der Rahmen ist offen, das Fadenende liegt scheinbar griffbereit, wer an ihm ziehen könnte, würde die Figur komplett verschnüren. Das Erdrückende des viel zu großen Blumenstrausses – eigentlich ja Symbol der Liebe, Anerkennung, Ordnung und der fest gefügten Konventionen – wird durch die gestickten umgebenden Linien verstärkt: Liebe kann, wie die Arbeit der Nadel, so fragil sein wie brutal. Wir finden weitere im Steppstich gefangene Figuren in Lorenz’ Bildern: im OG ein umsticktes Gesicht, einen behüteten – oder gefangenen Vogel, zerbrechliche, in der Regel angeschnittene Figuren ohne Füße, deren Gesicht unkenntlich oder verdeckt ist.

Der Übergang zu den Bildern der Verlorenheit ist fließend. Wir sehen ihn in „How I’d Be“ in der Materialcollage des gesichtslosen Mädchens, das verloren mit einem in groben Stichen zusammengeschusterten Landschaftsbild verknüpft ist. Die gezeigte „Heimat“, an der die Figur nur noch wie am seidenen Faden hängt, ist dabei nicht einmal die sprichwörtliche „Scholle“, keine Kartenausschnitte einer Landschaft, sondern die einer Wasserfläche. Der Gegenentwurf zur festen Bindung tritt uns hier also keineswegs als positiv besetzte Freiheit gegenüber. Als Gegenpol zur Bindung findet Friederike Lorenz das Bild des Wassers als des nicht Festzuhaltenden. Statt für die Freiheit aber steht es für die Gefahr. Mehrere Collagen in den Bildflächen hier im EG zeigen Ausschnitte von Wasserkarten. Die Angabe der Wassertiefe ist meist im Zentrum der Ausschnitte zu lesen. Immer ist das Wasser zu tief, als daß man stehen könnte. In der Ungebundenheit kann man leicht „unter gehen“. Wo grünes Land zu sehen ist, beginnt es, überschwemmt zu werden – Sie sehen die Wassertropfen, die mit Edding auf die Landkarte gezeichnet sind. (Ins Bild schwimmend auch die abstrakten Formen.) Und nicht einmal in der Badeanstalt – Sie kennen das Bild von der heutigen Einladung, es hängt im 1. OG – wagt das gestickte Menschlein, „ins kalte Wasser zu springen“: Ein Netz ist zwischen Sprungturm und Wasser gespannt.

Sehen Sie zuletzt das kleine Bild in „Love Me“ Nr. 1, wo ein Amöbentierchen allein schwimmt, während das andere hervorgehobene Tierchen eingebunden ist in eine Struktur gleicher Teile. Die Frage stellt sich: Wer „geht unter“? Das Geborgene, das in seiner Gleichheit mit allen anderen in der Masse untergeht? Oder das Freie, das keinen Halt finden wird? Dieses Bild fasst die Gratwanderung zwischen Aufgehobensein – Bindung einerseits und Freiheit – Verlorenheit andererseits zusammen.

Um die Bedingungen der Möglichkeit individueller Freiheit kreist auch das Werk von Helmi Kynast. Bürgerliche Freiheit ist in unserem Staat zwar theoretisch gewährleistet, doch ist auch diese staatliche Garantie, darauf machen die Arbeiten Helmi Kynasts aufmerksam, nur die notwendige, nicht schon die hinreichende Bedingung selbstbestimmten Lebens. Im konkreten Fall können die vielfältigen Hemmnisse sozialer wie psychischer Provenienz als schier unüberwindlich erscheinen. „Wie kann ich sein, was ich bin“, sind darum die verschiedenen Sequenzen der hier gezeigten Selbstportraits betitelt, in denen die Künstlerin Auswege aus als typisch erkannten Situationen hausgemachter Selbstbehinderung aufzeigt. Helmi Kynast hat das Dargestellte zunächst intellektuell tief durchdrungen. Davon zeugen diskursive Texte, die im Katalog den Bildfolgen beigegeben sind. Hier in der Ausstellung flankieren Gedichte die Bildsequenzen, Gedichte, die unsere Ausflüchte, Hemmungen und Zirkelschlüsse in Sprache und Denken ungeschminkt wiedergeben. Literarische Form wie fotografische Reihe machen Kynasts Erkenntnisse in ihrer Abbildung einer einzigen Geste für den Leser oder Betrachter unmittelbar evident. Das Werk „ausziehen“ etwa (das Werk auf der Einladung, hier im 2. OG) zeigt das ausziehen eines echten Kinderpullovers. Die natürlich symbolisch zu verstehende Bilderfolge macht augenfällig, daß jeder Mensch durch Gewohnheiten, Vorlieben und Vorurteile eingeengt wird, die ihm als Kind übergestülpt wurden und denen er längst entwachsen ist. Sich einzugestehen, in welchen Punkten dies der Fall ist, das Einengende abzustreifen und sich der überholten Gewohnheiten endlich zu entledigen, wird als Prozeß gezeigt, der mit sechs von elf Bildern über die Hälfte der Fotoreihe in Anspruch nimmt. „Nimm die Bälle in die Hand“, die Sequenz, die eine Jonglage-Übung in rückläufiger Reihenfolge zeigt, fordert noch einmal dazu auf, sich auch mal selbst die Bälle zuzuspielen und das eigene Leben in die Hand zu nehmen – zum Beispiel durch das Formulieren der eigenen Grenzen: „Bitte nicht stören“ ist an die Adresse derjenigen gerichtet, die, sei es aus Gewohnheit oder aus Unsicherheit, immer zu jedem Gefallen bereit sind, häufig auch dann „ja“ sagen, wenn sie eigentlich „nein“ meinen und sich dann wundern, daß sie für sich selber zu nichts kommen. „Du darfst sehen“, der langsame Augenaufschlag einer niedergedrückten Person, endlich zeigt in der schützenden Geste die notwendige Sorge um sich selbst, eine Zuwendung diesseits der wellness-Kultur, die sich jeder angedeihen lassen sollte und die weder verdient werden kann noch verdient werden muß.

Die Möglichkeiten der eigenen Freiheit auszuloten und umzusetzen, sieht Helmi Kynast nicht nur als Chance, sondern vielmehr als Verpflichtung. Ja, sich die eigenen Stärken bewusst zu machen und nach Kräften zu nutzen, gilt ihr sogar als einzige echte Verantwortung jedes Einzelnen und als die einzige Arbeit, die einem wirklich keiner abnehmen kann.

Wie aber ist es überhaupt um die Möglichkeiten unserer Welt- und Selbsterkenntnis bestellt? Diese Frage treibt Karien Vervoort seit Jahren um. In den Variationen der „Eindreiheit“ – Nr. 1 steht im 2. OG, Nr. 3 ist der verfremdete Schrank hier im Vorraum – zeigen Reliefs Bilder unserer fünf Sinne: Auge und Ohr, ein Löffel ohne Stiel für den Geschmackssinn, eine Blume für den Geruchssinn. Es fehlen Mund und Hand: Für Tastsinn wie für Kommunikation steht eine Computermaus. Wenn Sie die sechseckige Stele der „Eindreiheit Nr. 1“ im 2. OG umrunden, finden Sie eine durchbrochene Seite sowie eine dritte Seite mit einem Sehschlitz. Hierdurch sieht man sich selbst: An der gegenüberliegenden Innenseite ist ein Spiegel angebracht – in Mythologie und Märchen das Zauberwesen zur Selbst- und Welterkenntnis. So sind dem Relief, das unseren bewussten Zugang zur Welt auflistet, die Dimension des Unbewussten einerseits sowie die göttliche Dimension der Selbsterkenntnis als des wahren Weltzugangs beigegeben.

Selbsterkenntnis also kann gelingen. Wie aber steht es mit der Erkenntnis der Dinge? Die Zurichtung der Welt durch den Menschen, auf den Menschen hin, an immer neuen Beispielen aufzuzeigen, macht den anderen Teil des künstlerischen Schaffens von Karien Vervoort aus. Durch Artefakte bringt sie uns zu Bewusstsein, was uns zur sprichwörtlichen zweiten Natur geworden ist. Maßstabsverzerrung und Materialverfremdung sind dabei ihre künstlerischen Strategien, die auch in der mit „Alchemie“ überschriebenen Reihe von Aluminiumgüssen zum Tragen kommt. Hier verfremdet Vervoort verschiedene objets trouvés wie Schöpfkellen, Backmodel, Teppichklopfer, sogar eine Zitrone, ein Doppelbrötchen, die Schoten eines Affenbrotbaumes und immer wieder ein Stück Holz in der Form einer gebeugten Figur, die auf ihrer rechten Hüfte eine Last zu tragen scheint.

Daß Karien Vervoort nach Jahren der Arbeit bei dem historischen Phänomen der Alchemie angekommen ist, scheint mir fast zwangsläufig. War doch die „Alchemie“ zweifelsohne der einst gründlichste Versuch der Weltzurichtung. Denn die Suche nach dem lapis philosophorum, der die schwarze Erde (ägypt. „kemi“, gr. “Melanchthon”) in Gold verwandeln sollte, erschöpft sich nicht in der Suche nach einer Verwandlung der Dinge, sondern ist der Versuch einer Aufhebung der Zeit. Ist nämlich die Sonnensymbolik des reinen, glänzenden Goldes untrennbar mit der Idee von Beständigkeit und göttlicher Unvergänglichkeit verbunden, war die in der Alchemie gesuchte Quinta Essentia nichts anderes als das Lebenselexier, das als Allheilmittel Unsterblichkeit verhieß.

Betrachten wir vor diesem Hintergrund die Spiralfiguren in Vervoorts „Alchemie“-Reihe, die in den abgegossenen Kochplatten eines Kinderherdes auftauchen, aber auch in den eingestreuten Schneckenhäusern und gedoppelt, in der „Zeitspirale“ aus Schneckenhäusern. Die Spirale als nicht vollständig geschlossener Kreis symbolisiert die dahinfließende Zeit, die uns bei aller zyklischen Wiederkehr des Gleichen nie wieder an den selben Punkt zurückkommen lässt. Schneckengehäuse sind ein Jahrhunderte altes künstlerisches Symbol der Vergänglichkeit. Doch Karien Vervoort liefert uns dem „memento mori“ dieser Symbole nicht ohne Trost aus: Im „Einatmen“ – „ausatmen“ stemmt sich der fließende Atem der Meditation im Innehalten und Selbst-Bewusst-Werden gegen die Vergänglichkeit des Augenblicks.

Meine Damen und Herren, kehren wir nun die künstlerischen Strategien um und transportieren die Quintessenz dessen, was die Ästhetisierung der Alltagsgegenstände uns evident gemacht hat, als mentale Ready Mades zurück in unseren Alltag – auf der Suche nach der Wahrheit über die Vergangenheit, nach der Gegenwart in Freiheit, und nach einer Zukunft voll Muße, voll Ehrfurcht und Neugier.

Vielen Dank.

Dr. Cornelie Becker-Lamers, Weimar